Ein 62-Jähriger muss sich in einer Klinik einer Krebstherapie unterziehen. Die Nebenwirkungen machen ihm dabei schwer zu schaffen. Er klagt über Verdauungsstörungen und Hypertonie. Als er eines Morgens in den Spiegel schaut, traut er seinen Augen kaum.
Zur Behandlung eines Nierenzellkarzinoms wird ein 62-jähriger Mann in die onkologische Abteilung einer Klinik überwiesen. Die radiologische Untersuchung zeigt nicht nur einen Tumor der linken Niere sondern auch Fernmetastasen in der Lunge. Nach einer linksseitigen Nephrektomie beginnen die Ärzte die medikamentöse Behandlung mit Pazopanib, einem Tyrosinkinase-Hemmer, mit dem metastasierende Niernezellkarzinome behandelt werden.
Eine der häufigsten Nebenwirkungen von Pazopanib bekommt er während der ersten vier Therapiewochen zu spüren. Der Patient entwickelt eine Hypertonie der Stufe 3 (bis zu 220/120 mm Hg). Aufgrund der Schwere der Hypertonie muss das Medikament abgesetzt und eine medikamentöse antihypertensive Behandlung eingeleitet werden. Nach zwei Wochen hat sich sein Blutdruck normalisiert und die Ärzte starten einen neuen Behandlungszyklus mit Pazopanib. In der Hoffnung, die Nebenwirkungen besser kontrollieren zu können, setzen sie diesmal aber eine andere Dosierung ein. Statt 4 x 200 mg bekommt er nun täglich 2 x 400 mg Pazopanib verabreicht.
Zwar leidet er nun nicht mehr an Hypertonie, dafür aber an anderen häufig auftretenden Nebenwirkungen. Aufgrund starker Magenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen muss der Patient stationär in der Klinik aufgenommen werden. Die Ärzte behandeln ihn symptomatisch und seine Beschwerden lassen nach. Die Behandlung mit Pazopanip scheint erfolreich zu verlaufen: Auf CT-Aufnahmen ist zu sehen, dass die Lungenmetastasen inzwischen deutlich geschrumpft sind. Die Pazopanip-Therapie wird weiter verfolgt, bis sich der Zustand des Mannes nur zwei Tage später wieder verschlechtert. Abends klagt er über starke abdominelle Krämpfe und Diarrhö.
Als die Ärzte am nächsten Morgen nach ihm sehen, trauen sie ihren Augen nicht: Ihr Patient mit den kurzen, dunkelbraunen Haaren ist über Nacht vollständig ergraut. Nicht nur seine Kopfhaare, auch seine Augenbrauen sind jetzt völlig weiß. Wie ist das passiert?
Als Tyrosinkinase-Inhibitor hemmt Pazopanib wichtige Signaltransduktionswege im Tumor und unterbindet dadurch dessen Wachstum. Auch die Aufrechterhaltung der Melanozyten in den Haarfollikeln wird über Signalwege reguliert, die Pazopanib hemmt. Durch die mangelhafte Bildung von Melanin kommt es zur allmählichen Hypopigmentierung der Haare. Das ist laut der Ärzte die Ursache für die langsame, nach 7 bis 10 Therapiezyklen auftretende Verfärbung der Haare. Dies sei bei der Therapie nicht ungewöhnlich und gehöre zu bekannten Nebenwirkungen. Bei etwa 35 Prozent der Behandelten tritt diese Veränderung auf. Eine spontane Verfärbung der Haare über Nacht sei bisher im Zusammenhang mit Pazopanib nicht beschrieben.
Das Phänomen, Canities subita genannt, gilt als Mythos. Die behandelnden Ärzte haben in ihrer Literaturrecherche knapp 200 Fallberichte ausfindig machen können, aber nur in 44 Fällen beobachteten Ärzte diese angeblich spontane Verfärbung der Haare. Eine mögliche Erklärung sei, so die Ärzte, dass es sich dabei um eine Form der Alopecia areata handelt: ein akut einsetzender, entzündlich bedingter Haarausfall ohne Vernarbung der Haarfollikel. Bei Canita subita könnten von diesem Haarausfall nur die pigmentierten Haare betroffen sein. Dadurch komme es gerade bei älteren Betroffenen mit mehr grauen Haaren, fälschlicherweise zu der Erscheinung, dass sich die Haarfarbe plötzlich verändert.
Nach sieben Wochen startet der Patient einen neuen Behandlungszyklus mit Pazopanib. Die Dosis 2 x 200 mg täglich verträgt der Mann gut, sie wird kurze Zeit später auf 3 x 200 mg erhöht. Eine CT-Untersuchung drei Monate nach Start der Behandlung zeigt, dass die Lungenmetastasen noch weiter geschrumpft sind. Sein Haar gewinnt erst nach einigen Monaten wieder allmählich an Farbe.
Quelle:
Rapid hair depigmentation in patient treated with pazopanib. R Šeparović et al., BMJ Case Reports, doi: 10.1136/bcr-2018-224209; 2018
Artikel von Anke Hörster