Eine Frau verdächtigt plötzlich ihre Angehörigen, Gerüchte über sie zu verbreiten und ihr schaden zu wollen. In einer psychiatrischen Klinik steht die Diagnose schnell fest. Doch der Patientin hilft keine Therapie – bis die Ärzte der Ursache auf die Spur kommen.
Nachdem eine 37-jährige Frau ihre Familie bedroht hat, wird sie in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Sie verdächtigt ihre Angehörigen, in ihre Wohnung eingebrochen zu sein und diese verwüstet zu haben.
Die Familienangehörigen berichten, dass die Frau sich seit Monaten seltsam verhält. Sie begann plötzlich zu glauben, dass man über sie rede und Gerüchte verbreite. Freunde und Familie seien Teil einer großen Verschwörung gegen sie, in denen sogar Fremde „einstudierte Rollen“ hätten.
Klare Diagnose
An visuellen oder auditiven Halluzinationen leidet die Frau nicht. Sie hat auch keine relevanten Vorerkrankungen und keine bekannten psychischen Erkrankungen, wie eine Depression oder Angststörungen. Unter Verwandten sind keine psychischen Störungen bekannt.
Die Ärzte diagnostizieren aufgrund der Positivsymptome eine Spätschizophrenie. Sie behandeln sie daher mit dem Neuroleptikum Risperidon und dem Antidepressivum Sertralin. Trotz der Behandlung verbessert sich der Zustand der Patientin während ihres einmonatigen stationären Aufenthalts in der Psychiatrie nicht. Woran liegt das?
Unterversorgte Patientin
Bereits in der Klinik und bei anschließenden Kontrollterminen beim Hausarzt fallen im Blutbild eine Eisenmangelanämie und mangelhafte Versorgung u.a. mit Vitamin-B12 und Vitamin-D2 auf. Zusätzlich zu den Psychopharmaka erhält sie daher auch Multivitamin-Präparate und Eisen-(II)-Sulfat. Trotz der NEM-Therapie verbessern sich die Blutwerte jedoch nicht.
Der Hausarzt beobachtet bei der abgemagerten Patientin nun zusätzlich Haarausfall und ertastet bei der Untersuchung der Schilddrüse einen Knoten. Könnte die Schilddrüse die Ursache ihrer Symptome sein?
Die Therapie schlägt nicht an
Bei der Biopsie finden die Ärzte Hinweise auf Hashimoto-Thyrioditis sowie ein papilläres Schilddrüsenkarzinom. Nach einer Thyreoidektomie beginnt die Therapie mit Levothyroxin. Doch auch diese Therapie zeigt keine Wirkung: Normalerweise sinkt der Thyrotropin-Wert ab, sobald mit Levothyroxin behandelt wird. Bei der Patientin ist der Wert aber nach wie vor erhöht. Auch psychisch ist sie weiterhin in keiner guten Verfassung.
Der Hausarzt vermutet aufgrund ihrer schlechten Nährstoffversorgung, ihres geringen Körpergewichts und der hohen Thyrotropin-Level, dass die Darmresorption der Frau gestört ist. Das könnte bedeuten, dass auch die Psychopharmaka unvollständig resorbiert wurden und deshalb nicht wirkten.
Darmbeschwerden als Auslöser?
Eine Vermutung des Arztes: Zöliakie. Diese kann auch ohne gastrointestinale Symptome verlaufen und könnte eine Erklärung für ihre Mangelerscheinungen sein. IgA-Antikörperbestimmungen und eine Dünndarmbiopsie bestätigen den Verdacht.
Als sie ihre Patientin darüber aufklären und sie zum Verzicht glutenhaltiger Nahrungsmittel anhalten wollen, gerät die Situation außer Kontrolle. Plötzlich sieht sie auch ihre Ärzte als Teil der „Verschwörung“ gegen sie an. Sie verlässt das Krankenhaus und ihr psychischer Zustand verschlimmert sich zusehends – sie verliert ihren Job und wird obdachlos.
Als sie einen Suizidversuch unternimmt, wird sie wieder in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Die Therapie besteht abermals in der Behandlung mit Risperidon. Jetzt setzen die Ärzte sie aber zusätzlich auch auf eine strenge glutenfreie Diät. Endlich verbessert sich ihr Zustand und innerhalb von drei Monaten verschwinden die Wahnvorstellungen vollständig. Liegt es an der verbesserten Resorption der Medikamente oder ist womöglich das Gluten selbst schuld?
Laut der Ärzte ist eine extraintestinale Manifestation bei einer Glutenunverträglichkeit nicht unüblich. Patienten klagen oft über Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, chronische Kopfschmerzen, Angststörungen und Depressionen. Wenn keine gastrointestinalen Beschwerden vorliegen, wird die Krankheit oft nicht erkannt.
Keine Neuroleptika, keine Beschwerden
Die Ärzte setzen bei ihrer – nun wieder kooperativen Patientin – schrittweise Risperidon ab. Auch ohne die Medikamente bleibt sie symptomfrei. Für ihre Ärzte scheint der Zusammenhang zwischen den schizophrenen Schüben und ihrer Glutenunversträglichkeit damit wahrscheinlich.
Zwar haben die behandlenden Ärzte keine eindeutige Erklärung dafür. Sie spekulieren aber, dass die durch das Gluten hervorgerufene Entzündung im Darm auf das zentrale Nervensystem übergreift.
Die Ärzte planen sogar eine Versuchsreihe mit ihrer Patientin, um mehr über den Zusammenhang herauszufinden. Doch bevor sie die Experimente starten können, nimmt die Patientin versehentlich glutenhaltige Lebensmittel zu sich. Ihre Wahnvorstellungen kehren unmittelbar danach zurück. Wieder wähnt sie sich in einem Komplott ihrer Ärzte und lehnt eine glutenfreie Ernährung seitdem strikt ab.
Quelle:
A 37-Year-Old Woman with Adult-Onset Psychosis Delichatsios et al., NEJM, doi: 10.1056/NEJMcpc1514473; 2016