In einer Notaufnahme wird ein stark alkoholisierter Mann eingeliefert. Seine Frau kann sich nicht erklären, wie es dazu kommen konnte: Sie beteuert, dass er den ganzen Tag keinen Tropfen Alkohol zu sich genommen hätte. Hat der Patient heimlich getrunken?
Ein stark alkoholisierter Mann wird in eine texanische Notaufnahme eingeliefert. Die Ärzte messen eine lebensbedrohliche Blutalkoholkonzentration von 3,7 Promille. Seine Frau beteuert, dass er an diesem Tag nichts getrunken habe. Sie berichtet weiterhin, dass ihr Mann seit fünf Jahren immer wieder auf unerklärliche Weise betrunken wird. Nach einer Operation mit anschließender Antibiotika-Behandlung sei dieser Vorfall das erste Mal aufgetreten. Seither häufen sich die seltsamen Ereignisse, ohne dass er einen Tropfen Alkohol zu sich nimmt.
Die Ärzte glauben der Frau zunächst nicht. Sie vermuten, dass ihr Patient bloß ein heimlicher Alkoholiker und seine Frau uneinsichtig ist. Der 61-Jährige wird die nächsten 24 Stunden in der Klinik überwacht und wegen Alkoholintoxikation behandelt. Die Ehefrau, selbst Krankenschwester, besteht dennoch auf eine gründliche Untersuchung ihres Mannes. Die Krankheitsgeschichte verrät, dass der Mann an Hypertonie und Hyperlipoproteinämie leidet. Gastrointestinale Erkrankungen lägen nicht vor. Die Ärzte testen ihn auf Fructose- und Lactoseintoleranz sowie gestörte Glukosetoleranz. Die Ergebnisse sind jedoch negativ. Bei einer Ösophagogastroduodenoskopie weisen die Ärzte in seinem Magen Helicobacter pylori nach. Sie finden aber keine weiteren Auffälligkeiten, die die Symptome erklären könnten.
Nachdem sich der Patient vollständig erholt hat, wird er erneut zur 24-Stunden-Beobachtung ins Krankenhaus eingeliefert. Dieses Mal wollen die Ärzte testen, ob sich dieser Vorfall auch unter kontrollierten Bedingungen wiederholt. Um sicherzustellen, dass er keinen Alkohol bei sich trägt, inspizieren die Ärzte seine Sachen. Sie staunen, als die Blutalkoholkonzentration ihres Patienten unter Beobachtung auf bis zu 1,2 Promille ansteigt. Durch eine Stuhlprobe des Mannes kommen sie der Ursache endlich auf den Grund: Im Verdauungstrakt hat sich eine Kolonie des Hefepilzes Saccharomyces cerevisiae angesiedelt. Üblicherweise wird dieser für die Herstellung alkoholischer Getränke genutzt. Im Darm des Mannes hatte der Hefepilz die während der Beobachtungszeit aufgenommenen Kohlenhydrate zu Ethanol vergärt. So konnte der Alkohol in seinen Blutkreislauf gelangen, ohne ihn getrunken zu haben.
Das seltene Phänomen wird auch als Auto-Brewery-Syndrom bezeichnet und wurde bisher nur bei stark immunsupprimierten Personen beschrieben. Vermutlich hat sich die Darmflora des Mannes bei der Antibiotika-Behandlung vor fünf Jahren derart stark verändert, dass sich der Hefepilz ungehindert ausbreiten konnte.
Für drei Wochen wird der Patient mit Fluconazol und anschließend mit Nystatin behandelt. Zur Rekolonisierung des Darms muss er für die ersten sechs Wochen eine strenge Diät einhalten: Er darf weder Kohlenhydrate noch Alkohol zu sich nehmen. Außerdem erhält er das probiotische Bakterium Lactobacillus acidophilus. Seit Beginn der Behandlung ist der Patient beschwerdefrei.