In den USA ist es seit Jahren gesetzlich verpflichtend, herkömmliches Mehl mit Folsäure anzureichern. Neuralrohrdefekte bei Embryos sollten so reduziert werden – mit Erfolg. Warum weigert sich Deutschland, eine ähnliche Maßnahmen zu ergreifen?
Ein Folsäure-Mangel kann in den ersten Monaten der Frühschwangerschaftzu Neuralrohrdefektenwie Spina bifidaoder Anenzephalieführen. Nicht alle Frauen planen ihren Kinderwunsch im Vorfeld und nehmen deshalb Folsäure ein. Bei einem positiven Schwangerschaftstest, mit dem man nicht gerechnet hatte, ist es dann allerdings auch schon zu spät für Supplemente. In den USA wurde deshalb bereits 1996 beschlossen, herkömmliches Mehl mit dem Vitamin anzureichern.
Seit 1998 ist dies sogar gesetzlich verpflichtend. Der Wert liegt bei 140µg Folsäure pro 100 g Mehl. Dadurch verringerte sich die Prävalenz bei Spina bifida zwischen 1995 und 2011 von 6,5 auf 4,0 pro 10.000 Lebendgeburten und bei Anenzephalie im gleichen Zeitraum von 4,2 auf 2,9 pro 100.000 Lebendgeburten. Auch wenn die Zahlen eine positive Entwicklung zeigen, steht man dem Beschluss in Deutschland kritisch gegenüber.
Deutschland: Anreicherung „derzeit nicht zu empfehlen“
In einer Stellungnahme befasst sich das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) mit der Thematik. „Der Nutzen einer Mehlanreicherung in Deutschland lässt sich auf Basis der vorliegenden Daten schwer beurteilen“, schreiben Experten. „Zum einen gibt es hierzulande kein nationales Register für die Erfassung von angeborenen Fehlbildungen. Auch ist unklar, ob die Ergebnisse aus anderen Ländern auf die deutschen Verhältnisse übertragbar sind.“ Außerdem würden nur schwangere Frauen davon profitieren.
Das BfR verweist jedoch auf Risiken für andere Bevölkerungsgruppen. So habe es Hinweise auf erhöhte Krebsrisiken oder kognitive Beeinträchtigungen bei älteren Menschen gegeben. Überdosierungen seien durch angereichertes Mehl in Kombination mit Präparaten zur Supplementation möglich. Vor dem Hintergrund möglicher Risiken sei eine flächendeckende Anreicherung von Mehl „derzeit nicht zu empfehlen“. Mit diesem Rat isoliert sich die Behörde international immer stärker.
Großbritannien: Unbedingt anreichern!
Das britische Advisory Committee on Nutrition kommt nahezu zeitgleich zu völlig anderen Einschätzungen. Auch sie verweisen auf die bekannte Evidenz, dass Folsäure Neuralrohrdefekte verhindert. Auf Basis von Literaturrecherchen befassten sich Experten mit oft diskutierten unerwünschten Effekten. Sie fanden keine Hinweise, dass Mengen bis zu 1,0 mg pro Tag zu neurologischen Beeinträchtigungen älterer Menschen führen. Es gab zwar einzelne Studien, die auf erhöhte Prostata-, Brust- oder Darmkrebsrisiken hinwiesen. Schlossen sie aber nur randomisierte kontrollierte Studien ein, fanden sie keine Belege.
Wie schon in den Jahren zuvor fordert das britische Komitee, Mehl anzureichern. Zu ähnlichen Einschätzungen kommt die International Teratology Society, eine weltweit tätige Fachgesellschaft. Sie nennt als zusätzlichen Bedarf 150 µg Folsäure pro Tag.