Unrealistische Evakuierungspläne und Iodidtabletten für die Bevölkerung: Bei der Vorbereitung auf etwaige Ernstfälle wie etwa beim belgischen AKW Tihange sind Behörden schlecht aufgestellt. Viele Maßnahmen gehen über reinen Aktionismus nicht hinaus.
Das belgische Kernkraftwerk Tihange kommt nicht aus den Schlagzeilen. Aufgrund von Problemen mit einem Turbinenmotor ging es im Juni erneut vom Netz. Seit 2012 häufen sich die Pannen. Ende 2015 erlaubten belgische Atomaufsichtsbehörden den weiteren Betrieb trotz unzähliger Materialfehler in Reaktordruckbehältern.
Deutschlands Politiker reagieren angesichts dieser Ignoranz mehr als empört. Rund 30 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl und fünf Jahre nach der Havarie von Fukushima lassen sich lebensbedrohliche Risiken der Kernenergie nicht mehr leugnen. Dass die Bundesregierung alle heimischen Kernkraftwerke bis 2022 abschalten will, ist zwar ein Schritt in die richtige Richtung. Bis zu diesem Zeitpunkt gehen von heimischen Anlagen ebenfalls gefahren aus. Pannenanfällige AKWs wie Tihange oder Doel nahe der Grenze machen die Sache nicht besser. AKWs in Deutschland und in grenznahen Regionen. UVP: Umweltverträglichkeitsprüfung, SUP: Strategische Umweltprüfung. © Umweltbundesamt Österreich Belgische Behörden lehnten es ab, ihre Meiler bis zur Klärung offener Sicherheitsfragen vom Netz zu nehmen. Die Kraftwerke erfüllten „höchste Sicherheitsanforderungen“. Da kein Gesetz des Nachbarlands verletzt wird, lässt sich wenig unternehmen. Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen fanden einen recht dünnen Ansatzpunkt. Sie beschwerten sich sowohl bei der EU-Kommission in Brüssel, als auch beim ESPOO Implementation Committee in Genf über fehlende grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfungen. Diese hätte Belgien angesichts der Grenznähe durchführen müssen, bevor die Laufzeit von Block 1 um zehn Jahre verlängert wurde. Jetzt fordert eine Allianz aus 80 Kommunen von der Europäischen Kommission sämtliche vorliegenden Informationen zu dem Reaktor. Aufgrund von zahllosen Rissen gelten Doel und Tihange in Deutschland als gefährlich. Doch was würde bei einem Störfall tatsächlich passieren?
„Der Katastrophenschutz bei einem AKW-Unfall mit Freisetzung radioaktiver Spaltprodukte ist veraltet und zu kleinräumig ausgelegt“, kritisierten die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung“ (IPPNW) bereits 2012. Wesentliche Punkte haben sich seither nicht geändert. Zwar unterscheidet die Strahlenschutzkommission (SSK) in ihren Rahmenempfehlungen zwischen einer Zentralzone (fünf Kilometer Radius um die kerntechnische Anlage), einer „Mittelzone“ (20 Kilometer) und einer „Außenzone“ (100 Kilometer). Die schwäbische Gemeinde Gundremmingen unweit des AKW Gundremmingen kommuniziert beispielsweise nur Aufnahmeräume bis zu einem Abstand von zehn Kilometern. Weitere Planungen enden nach dem Kilometer 25. Die Verfrachtung radioaktiver Spaltprodukte endet nicht in diesem Bereich, schreiben Forscher des Max-Planck-Instituts für Chemie. Mehr als 90 Prozent des freigesetzten Isotops Caesium-137 passieren die 50-Kilometer-Marke, und mehr als 50 Prozent legen sogar über 1.000 Kilometer zurück, bevor es zur Deposition kommt. „Das bedeutet, Unfälle haben großflächige, grenzüberschreitende Folgen“, schreibt der MPI-Forscher Johannes Lelieveld im Artikel.
Ähnlich unglaubwürdig wie die aktuellen Sektoren sind Empfehlungen, „Notgepäck für sich und die Angehörigen für zwei bis drei Tage“ zusammenzustellen oder „Iodidtabletten zur Blockade der Schilddrüse bei staatlichen Stellen abholen“. Das Salz soll verhindern, dass radioaktives Iod-131 aufgenommen wird. Aachen lagerte alle Packungen zunächst im Klinikum am westlichen Stadtrand, Apotheken spielen keine Rolle. Hier hat sich der Gesetzgeber mit einem weiteren Musterbeispiel deutscher Bürokratie abgesichert: der Kaliumiodid-Verordnung. Sollte es in Tihange zu einer Havarie kommen, rechnen Experten je nach Wetterlage bereits drei Stunden später mit Nukliden in Aachen. Ein Abregnen der radioaktiven Wolke ist in der Eifel und östlich von Köln am Fuße des Bergischen Landes zu erwarten. Wie schnell die Kommunikation länderübergreifend funktioniert, bleibt ungeklärt. Macht Kaliumiodid dann noch Sinn?
„Die WHO empfiehlt 130 Milligramm als Einmalgabe ein bis zwei Tage vor Eintreffen der radioaktiven Wolke“, schreibt Professor Helmut Schatz von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie in seinem Blog. „Drei Stunden nachher hat sie nur noch 50 Prozent, zehn Stunden später keine Wirkung mehr. Noch später kann sie sogar schaden, da dann das durch die Atmung schon aufgenommene radioaktive Jod langsamer ausgeschieden wird.“ Belgien hat diese Problematik erkannt. Demnächst sollen alle elf Millionen Einwohner Iodidtabletten als Vorrat für zu Hause erhalten. Nordrhein-Westfalen lagert nur große Mengen an Kaliumiodid-haltigen Präparaten ein. Ob sich diese Tabletten im Katastrophenfall angesichts verstopfter Autobahnen und flüchtender Bürger rasch genug verteilen lassen, darf bezweifelt werden.
Schema der Kernspaltung. Neben Krypton- und Bariumisotopen entstehen unter anderem Xenon-, Iod- und Caesium-Isotope. © Wikipedia Neben Iod-131 mit einer Halbwertszeit von acht Tagen spielen Caesium-Isotope wie Caesium-137 bei Kontaminationen eine entscheidende Rolle. Caesium-137 hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Erst nach zehn Halbwertszeiten, sprich 300 Jahren, sind nahezu alle Kerne physikalisch zerfallen. Radioaktive Edelgase, etwa Krypton-85 (Halbwertszeit zehn Jahre) oder Xenon-133 (Halbwertszeit fünf Tage) werden ebenfalls an die Umwelt abgegeben. Über längere Wegstrecken betrachtet spielen Kernbrennstoffe wie Uran oder Plutonium jedoch keine Rolle. Bei einer Kontamination bleibt als Ultima Ratio nur, kontaminierte Gegenden zu räumen. Tschernobyl und Fukushima sind auf lange Sicht unbewohnbar geworden – trotz aller vorbeugenden Maßnahmen von Betreibern kerntechnischer Anlagen.