Nach wie vor warten Health Professionals auf den Durchbruch bei der Therapie von Demenzerkrankungen. Deshalb will Hermann Gröhe Tests mit Patienten ausweiten, die weder zustimmen können noch selbst von einer Studie profitieren.
Weltweit bleiben Demenzen eine der großen Herausforderungen für Gesundheitssysteme. Das geht aus dem Welt-Alzheimer-Report 2015 hervor. Experten zufolge leben in den USA 9,4 Millionen Menschen mit der Erkrankung, in Europa 10,5 Millionen, in Asien 22,9 Millionen und in Afrika 4,0 Millionen. Waren dem Bericht zufolge in 2015 noch 46,8 Millionen Menschen weltweit betroffen, rechnen Forscher bis 2030 mit 74,7 Millionen Patienten. In 2050 sollen es sogar 131,5 Millionen sein. „Die steigenden Kosten von Demenz werden eine ernsthafte Herausforderung für die Gesundheits- und Sozialsystem in aller Welt darstellen“, kommentiert Marc Wortmann von der Organisation Alzheimer´s Disease International (ADI) seinen Bericht. Grafik: Welt-Alzheimer-Report 2015
Deutschland ist ebenfalls stark betroffen. Laut Bundesministerium für Gesundheit (BMG) leben bei uns aktuell 1,6 Millionen Menschen mit Demenzerkrankungen. „In Abhängigkeit von statistischen Grundannahmen (zum Beispiel zur zukünftigen Entwicklung der altersbezogenen Prävalenzraten) könnte sich die Zahl der demenziell erkrankten Menschen bis zum Jahr 2050 verdoppeln“, heißt es in einer Mitteilung. Die Krankheiten, allen voran die Alzheimer-Demenz, lassen sich bis heute nicht heilen. Viele Projekte sind in den letzten Jahren gescheitert. Deshalb setzt Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) große Hoffnungen in die Forschung. Beim Pharmadialog kündigte er an, die Forschung zu intensivieren. Jetzt werden seine Pläne konkret.
Dazu ein Blick auf Gröhes Entwurf des Vierten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften (AMG-E). In die Novelle flossen etliche Ideen von Professor Wolfgang Maier ein. Mair ist Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, und Sprecher der Steuerungsgruppe für die Entwicklung der S3-Leitlinienentwicklung „Demenzen“. „Die gegenwärtige gültige Fassung des AMG schließt beim Fehlen der Einwilligungsfähigkeit (...) die Teilnahme an ausschließlich gruppennützigen klinischen Studien aus“, so Maier. „Diese Regelung behindert vor allem auch die Entwicklung von wirksamen Therapien bei Demenzen im fortgeschrittenen Stadium (mittelgradige oder schwere Demenzen), da krankheitsbedingt meist keine Einwilligungsfähigkeit mehr vorliegt.“ Gruppennützige klinische Studien seien angesichts mangelnder aktueller Therapiemöglichkeiten jedoch notwendig. Hermann Gröhe griff die Ideen auf. Künftig soll ein „Nutzen für die repräsentierte Bevölkerungsgruppe, zu der die betroffene Person gehört“, ausreichen, falls Patientenverfügungen dies gestatten. Jetzt melden sich mehr und mehr kritische Stimmen zu Wort.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und das Kommissariat der deutschen Bischöfe kritisieren Gröhes Pläne in einer gemeinsamen Stellungnahme. Sie stören sich vorrangig an gruppennützigen Studien mit nicht einwilligungsfähigen Erwachsenen gemäß Paragraph 40b Absatz 4 AMG-E. „Derartige klinische Prüfungen bergen die Gefahr in sich, dass der Mensch zum Nutzen anderer instrumentalisiert wird, zum bloßen Objekt herabgestuft und benutzt wird“, schreiben beide großen Kirchen. „Dass eine derartige Verzweckung des Menschen gegen dessen Würde verstößt, steht für uns außer Zweifel.“ Hermann Gröhe © Christliches Medienmagazin pro/Wikipedia Signalisieren Patienten ihr grundsätzliches Einverständnis vor Ausbruch einer Demenzerkrankung, steht der Teilnahme an Studien nichts im Wege. Die konkrete Einwilligung kommt schließlich vom Betreuer selbst. Vordrucke enthalten derzeit keine Felder zu Fragen rund um Arzneimittelstudien. „In Patientenverfügungen kümmert man sich um sich selber und nicht um das, was in der Forschung passiert“, erklärt der Vorsitzende der Ethikkommission Berlin, Professor Martin Hildebrandt. Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Bundestages und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe, ergänzt: „Menschen mit geistiger Behinderung dürfen nicht zu Versuchskaninchen werden.“ Auch der VFA distanziert sich: „Die forschenden Pharma-Unternehmen benötigen daher für ihre Entwicklungsarbeit keine Gesetzesänderung.“ Klinische Studien würden so konzipiert, dass demenzkranke Teilnehmer einen individuellen Nutzen hätten.
Neben der Rekrutierung von Patienten enthält Hermann Gröhes Entwurf noch weitere heikle Passagen. Ethikkommissionen seien nur noch „maßgeblich zu berücksichtigen“. Bisher war deren Zustimmung eine zentrale Voraussetzung. „Wir geben zu bedenken, dass die Formulierung ‚maßgeblich zu berücksichtigen’ absehbar in der Praxis dazu führen dürfte, dass die Bundesoberbehörde unter Verweis auf den im deutschen wie im europäischen Recht verankerten Gleichheitssatz Voten der Ethik-Kommissionen auch darauf hin prüfen wird, ob sie in vergleichbaren Konstellationen auch zu vergleichbaren Ergebnissen gelangen werden“, schreiben EKD und Bischöfe. Dies gehe weit über „Ausreißer“ bei offensichtlichen Verstößen gegen Grundsätze der Wissenschaftlichkeit hinaus. Kirchen schlagen deshalb vor, an der generellen Zustimmung von Ethikkommissionen festzuhalten. Deren Registrierung solle „durch eine andere Stelle als die Bundesoberbehörde“ vorgenommen werden.
Hermann Gröhe rechtfertigte seine Pläne umgehend. Der Wille und der Schutz der Patienten stünden „zu jedem Zeitpunkt an erster Stelle“, sagte der CDU-Politiker. „Zugleich eröffnen wir die Möglichkeit für Studien, die helfen können, zum Beispiel demenzielle Erkrankungen besser zu verstehen und zu behandeln.“ Trotzdem rudern Union und Sozialdemokraten zurück. Wann es zur abschließenden Beratung im Bundestag kommt, ist noch offen. Experten arbeiten derzeit an einem Kompromissvorschlag.