Schüler und Studenten sind im Stress: Damit sie allen Anforderungen gerecht werden, greifen sie immer häufiger zu Ritalin, Modafinil und Antidementiva. Beim abendlichen Runterkommen helfen dann wiederum Schlaf- und Beruhigungsmittel.
Die zunehmende Medikamenteneinnahme bei Kindern und Jugendlichen ist besorgniserregend. Eine Untersuchung an 13- bis 16-Jährigen von Professor Gerd Glaeske stellte bereits vor einigen Jahren fest, dass Jugendliche eine Vielzahl von Medikamenten einnehmen. Anfangs erhalten sie diese häufig von ihren Eltern und beschaffen sie sich dann zunehmend auch selbst aus der Apotheke.
Besonders Mädchen waren in dieser Studie von verstärkter Medikamenteneinnahme betroffen. So nahmen beispielsweise 19,4 Prozent der Mädchen regelmäßig Schmerzmittel, 14,2 Prozent Erkältungs- und Grippemedikamente und 17 Prozent Vitaminpräparate ein. Auch die Einnahme von Medikamenten gegen Menstruationsbeschwerden, Magenbeschwerden, sowie die Einnahme von Schlaf,- und Beruhigungsmitteln ist bei Mädchen häufig zu verzeichnen. Doch neben diesen herkömmlichen Medikamenten greifen Jugendliche auch verstärkt zu Präparaten, die die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit steigern sollen. Länger wach bleiben, konzentrierter und schneller lernen – viele Gründe sprechen scheinbar für das Gehirndoping mit sogenannten Neuroenhancern. Wie auch bei Erwachsenen können Krankheiten durch erhöhte Belastung ausgelöst werden. Immer mehr Stress und Leistungsdruck im Alltag der Jugendlichen könnte also ein Grund für den Medikamentenmissbrauch sein. Die Einnahme von Präparaten dient offenbar häufig dazu, einfach das tägliche Leistungspensum zu schaffen und in der Schule oder im Studium nicht zu versagen. Der Druck, gute Noten zu erhalten, einen guten, am besten noch sehr guten Schulabschluss zu schaffen, das Studium in der vorgegebenen Zeit zu absolvieren - all das sind Dinge, die Jugendliche und junge Erwachsene dazu führen, leistungsfördernde oder leistungserhaltende Präparate, wie beispielsweise Neuroenhancer oder auch Schmerzmittel, zu sich zu nehmen.
Die teilweise legal erhältlichen und oft sehr unterschiedlichen Aufmerksamkeits-steigernden Substanzen haben alle eine Gemeinsamkeit. Sie sollen die geistige Leistungsfähigkeit steigern und so schnelleres Lernen, besseres Auffassungsvermögen, längere Wachperioden oder erhöhte Konzentrationsfähigkeit ermöglichen. Mehrere Studien des vergangenen Jahres haben sich bereits verstärkt mit der Thematik des Neuroenhancements auseinandergesetzt. So veröffentlichte beispielsweise Kimberley J. Schelle von der Radboud Universität eine Studie zu Neuroenhancement bei niederländischen Studenten, in der sie in einer Umfrage nach der Häufigkeit des Konsums fragte. Im Vergleich zu anderen Ländern lagen die Niederlande hier mit einem Prozentsatz von 1,7 Prozent der Studenten, die starke Neuroenhancer (z. B. Methylphenidat) zu sich nahmen, deutlich unter dem Durchschnitt anderer Länder. Bei denen lag der Schnitt zum Teil über 25 Prozent. Weiterhin konnte in der Studie ein Zusammenhang zwischen Einnahme von Neuroenhancern und verstärktem Stress in der Uni festgestellt werden.
Zu den gesellschaftlich akzeptierten Substanzen in diesem Bereich gehören Coffein und Präparate mit Inhaltsstoffen des Gingko biloba. Die in den Blättern enthaltenen Inhaltsstoffe des asiatischen Gingkobaumes bestehen hauptsächlich aus Flavonoiden und werden in der Medizin beispielsweise zur Behandlung von Demenz eingesetzt. Die Gingkoextrakte wirken neuroprotektiv, fördern die Durchblutung und verbessern Gedächtnisleistung sowie Lernvermögen. Im Bereich des Neuroenhancements spielen sie allerdings eher eine untergeordnete Rolle. Ganz anders allerdings Coffein. Beim morgendlichen Vorlesungsbeginn in der Universität sieht man kaum noch Studenten ohne den obligatorischen Kaffeebecher oder einen entsprechenden Energy-Drink, um die folgenden Vorlesungsstunden wach und maximal konzentriert zu überstehen. In einem Interview erzählt der 22-jährige Student Elias: „Ich kann mir nicht vorstellen, eine komplette Uniwoche ohne Coffein zu überstehen. Wenn ich vormittags keinen Energy-Drink getrunken habe, fallen mir spätestens ab 15 Uhr in der Vorlesung einfach die Augen zu und ich kann nicht mehr konzentriert mitschreiben.“
Auch beim Lernen, erzählt er uns, helfen ihm die süßen Coffeinbomben. Wenn Elias abends um 18 Uhr aus der Uni kommt ist er kaum noch aufnahmefähig. „Und dann muss ich mich erst noch um alltägliche Dinge kümmern, die wegen des Unistresses tagsüber einfach auf der Strecke bleiben. Bis ich mich dann wirklich zum Lernen hinsetzen kann, ist es oft 21 Uhr oder später. Um dann noch wach zu bleiben und nicht über den Lernsachen einzuschlafen, weil man so müde ist, brauche ich einfach die Energy-Drinks. Wenn ich davon gegen 17 oder 18 Uhr noch einen trinke kann ich fast die ganze Nacht wach bleiben,“ erzählt der 22-Jährige. Tatsächlich wirkt Coffein als ein mildes Psychostimulantium, erhöht den Blutdruck, führt zu Tachykardie und stimuliert das zentrale Nervensystem. Während in einer gewöhnlichen Tasse Kaffee mit 125 ml je nach Sorte von 40 bis 100 mg Coffein enthalten sind, besitzen die süßen Energy-Drinks eine Konzentration von 32 mg pro 100 ml. Allerdings werden diese häufig in 500 ml Dosen angeboten. Dementsprechend wird nach Genuss eines derartigen Getränkes schnell eine hohe Coffein-Konzentration erreicht, die den sensorischen Teil der Hirnrinde im zentralen Nervensystem beeinflusst und so neben des typischen Wachmacher-Effektes auch zu einer Erhöhung des Hirntonus führt, was sowohl das Konzentrationsvermögen als auch die Speicherung von Informationen positiv beeinflusst.
Neben solchen gesellschaftskonformen Neuroenhancern greifen Schüler und Studenten aber auch immer häufiger zu verschreibungspflichtigen Präparaten, die sie sich illegal beschaffen. Besonders beliebt in diesem Bereich ist das Präparat Ritalin, das eigentlich zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) eingesetzt wird. Es ist eine Amphetamin-ähnliche Substanz mit entsprechendem Wirkmechanismus und ihr Konsum ohne medizinische Indikation ist in Deutschland eigentlich illegal. Der enthaltene Wirkstoff Methylphenidat hemmt bestimmte Transporter für die Transmitter Noradrenalin und Dopamin an den präsynaptischen Nervenendigungen. Diese Transporter sorgen für gewöhnlich für eine Wiederaufnahme der Neurotransmitter aus dem synaptischen Spalt. Da diese nun in Folge des Methylphenidats gehemmt wird, erhöht sich die Konzentration der Transmitter im synaptischen Spalt, was wiederum zu einem verstärkten Signal am Rezeptor und einer Stimulation des Sympathikus führt. Es kommt zu einer Unterdrückung von Müdigkeit, Antriebssteigerung, Steigerung der Aufmerksamkeit und einem gesteigerten Muskeltonus.
„Mit Ritalin kann ich viel schneller und effektiver lernen“, berichtet Wiebke, eine Tiermedizinstudentin im 4. Semester. Sie steht gerade kurz vor den Physikumsprüfungen und hat das Präparat von einem befreundeten Arzt erhalten. „Einige andere Studenten haben mir von Ritalin erzählt und dass sie damit immer gute Noten in den Prüfungen bekommen haben. Also habe ich es auch ausprobiert und es funktioniert! Plötzlich bin ich viel konzentrierter und lasse mich nicht mehr so leicht ablenken. Ein paar Nebenwirkungen hat es natürlich auch. Ich habe dann oft Kopfschmerzen und keinen Appetit mehr, aber das ist es mir wert.“ Die 28-Jährige steht unter großem Druck ihr Studium so schnell wie möglich zu beenden, da sie vorher bereits ein anderes Studium abgebrochen hat. „Ich werde nicht jünger und irgendwann muss ich auch den Bafög-Kredit für das Studium abbezahlen. Da helfe ich lieber nach, bevor ich nachher durch das Physikum falle und noch ein Jahr länger studieren muss. Das kann ich mir nicht erlauben“, erzählt die Studentin. Die Meinung von Wiebke teilen offenbar viele Studenten. Durch verstärkten Stress im Studium und immer mehr Stoff, der in immer kürzerer Zeit erlernt werden soll, sehen viele Studenten sich gezwungen, zu derartigem Gehirndoping zu greifen, um ihre Noten zu verbessern. Mehrere Studien aus dem Jahr 2015 zeigen eine erhöhte Bereitwilligkeit der Studenten durch Neuroenhancer, ihre geistige Leistungsfähigkeit zu erhöhen. In einer Studie zur Haltung Schweizer Studenten bezüglich Neuroenhancern des Swiss Research Institute for Public Health and Addiction gaben beispielsweise 22 Prozent der an der Studie beteiligten Studenten an, bereits Neuroenhancer genommen zu haben.
Neben Methylphenidat spielt auch der Einsatz von Modafinil und Antidementiva als Neuroenhancer eine Rolle. Modafinil wird eigentlich zur Behandlung von Narkolepsie eingesetzt und ist ein extrem starker Wachmacher, während Antidementiva zur Behandlung von Demenz verwendet werden und auf einer Inhibition der Acetylcholin-Esterase beruhen. Durch die Antidementiva wird der Abbau von Acetylcholin gehemmt und somit dessen Konzentration erhöht. Eine verstärkte Gedächtnisleistung sowie Konzentrationsfähigkeit sind die Folge. Neben ihren dargestellten Vorteilen weisen alle Neuroenhancer jedoch auch Nebenwirkungen auf, die zum Teil äußerst schwerwiegend sein können. Ein Missbrauch derartiger Präparate ohne ärztliche Indikation birgt daher ein großes Risiko. Auch der Faktor der Abhängigkeit von Präparaten wie Ritalin ist derzeit noch nicht vollständig geklärt.
Im Interview teilt uns ein Allgemeinmediziner seine Erfahrungen und Bedenken bezüglich der Einnahme von Neuroenhancern mit: „Ritalin und andere Präparate haben in den letzten Jahren für meine Arbeit immer mehr an Bedeutung gewonnen. Die Diagnose von ADHS und ähnlichen Störungen bei Kindern und Jugendlichen nimmt nach wie vor zu. In diesem Bereich haben derartige Wirkstoffe auch durchaus ihre Berechtigung, aber gesunden, jungen Menschen würde ich von der Einnahme solcher Präparate strikt abraten. Ihre Langzeitwirkung auf den Organismus gesunder Individuen, sowie auch diverse Nebenwirkungen, sind meiner Meinung nach immer noch nicht hinreichend belegt.“ Trotzdem hat Dr. L. schon häufig jugendliche Patienten in seiner Praxis gehabt, die ihn ganz offen um die Verschreibung eines solchen Präparates zu Zwecken des Neuroenhancements gebeten haben. „Häufig sind es Studenten“, erzählt der Mediziner, „doch vor einigen Monaten war auch ein junger Mann hier, der gerade vor seinen Abiturklausuren stand und das Lernpensum nicht mehr bewältigen konnte. Er war ganz verzweifelt und sah offenbar in einem Präparat zur geistigen Leistungssteigerung den einzigen Ausweg. Natürlich habe ich ihm kein Ritalin verschrieben. Meiner Meinung nach hat die geistige Leistungsfähigkeit jeder einzelnen Person irgendwo ihre Grenzen und wenn diese Grenze erreicht ist, sollte man das akzeptieren.“