Die ambulante Versorgung kann um einiges besser und effizienter werden, wenn sie die „Gleichbehandlung“ von Frauen und Männern abschafft. Ein Gastbeitrag von Dr. Martina Kloepfer.
Bislang diente der männlichen Körper als Matrix für den menschlichen Organismus. Dabei zeigt die jüngste Forschung im Bereich Gendermedizin, dass das komplexe Zusammenspiel zwischen biologischem und soziokulturellem Geschlecht teils erheblichen Einfluss auf Diagnose und Therapie bereits gut erforschter Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs hat.
Beispiel Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Frauen fühlen „nur“ Übelkeit
Würden Passanten und Passantinnen einer Einkaufsstraße spontan nach dem höchsten Sterberisiko für Frauen befragt, käme wahrscheinlich "Brustkrebs" als Antwort. Ein Irrglaube, wie der Deutsche Herzbericht 2016 zeigt. Auch wenn insgesamt weniger Frauen einen Herzinfarkt erleiden, so erliegen im Vergleich zu männlichen Patienten rund doppelt so viele ihrem ersten Infarkt.
Den Grundstein für diese Erkenntnis und für die Gender-Medizin allgemein legte die Ärztin Marianne J. Legato. Sie erforschte bereits in den 1980er Jahren an der Columbia-Universität in den USA geschlechterspezifische Unterschiede bei kardiovaskulären Erkrankungen. Legato fiel vor rund 40 Jahren auf, dass auch Frauen einen Herzinfarkt erleiden können, damals als Männerkrankheit des Typs Manager (Übergewicht, Raucher, Workaholic) gesehen.
Ein weiblicher droht aber auch heute noch unerkannt zu bleiben und zu spät diagnostiziert zu werden. Die Symptome eines weiblichen Herzinfarkts können sich nämlich von denen eines männlichen deutlich unterscheiden. Statt der Schmerzen im linken Arm machen sich "nur" Übelkeit, Druck im Oberbauch und Schwindel bemerkbar. Welche biologische Begründung es dafür gibt, steht letztendlich noch nicht fest. Gerade in der ambulanten Grundversorgung ist daher die Arzt-Patientin-Beziehung für die Diagnose enorm wichtig.
Beispiel Diabetes: Mehrfachbelastung führt zu Hilflosigkeit
Übergewicht ist bei beiden Geschlechtern Risikofaktor Nummer eins für Diabetes. Das Zusammenspiel von Hormonen und Fettverteilung kann aber zu unterschiedlichen Auswirkungen führen. Ein niedriger Testosteronspiegel kann bei übergewichtigen Männern zu einer Insulinresistenz führen; wogegen Frauen mit einem erhöhten Androgenspiegel ein höheres Risiko haben, an Diabetes zu erkranken. Das Risiko einen Schlaganfall als Folgekrankheit zu erleiden, ist für Frauen 3 bis 7 mal höher als für Männer.
Während Frauen häufig erst nach der Menopause mit der Diagnose Diabetes mellitus Typ 2 konfrontiert werden, sind Männer wesentlich früher informiert. Beim Diabetes Typ 1 sind es dagegen die Mädchen, die bereits im Kindesalter erkranken, während es die Jungen eher in der Pubertät treffen kann. Der hormonelle Einfluss auf Diabetes-Medikamente ist noch Gegenstand der Forschung.
Das psychosoziale Geschlecht (Gender) spielt dagegen überwiegend bei der Bewältigung der Diabeteserkrankung eine Rolle. Diabetes greift tief in den Alltag ein und hier vermissen Frauen häufig die notwendige Unterstützung. Im Unterschied zu den männlichen Leidensgenossen sind sie häufiger einer Mehrfachbelastung durch Arbeit, Haushalt, Familie und sogar Pflege ausgesetzt: Neben der Arbeit kümmern sie sich um Haushalt und Familie und zum Teil auch zu pflegende Angehörige. Ein spezieller Speiseplan kann hier durchaus als zusätzliche Belastung empfunden werden – und für die erforderliche sportliche Betätigung bleibt ohnehin keine Zeit mehr.
Beispiel Krebs: Hormone, Chromosomen und Rezeptoren erschweren Studien
Bei Krebserkrankungen scheinen Frauen dagegen im Vorteil zu sein. Eine Erklärung mag sein, dass Männern seltener Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen. Allerdings beeinflussen die Sexualhormone Östrogen und Testosteron das Immunsystem und damit den Krankheitsverlauf nicht unerheblich. Welche Weichen durch das XX- bzw. XY-Chromosomenpaar gestellt werden, ist noch Gegenstand der Forschung.
Während Frauen generell als schmerzempfindlicher gelten, zeigt sich, dass der Bedarf an Morphinen bei Männern nach einer Krebsoperation um ca. 40% höher liegt, da der Wirkstoff bei weiblichen Opiatrezeptoren leichter andockt. Ganz generell gilt, dass die meisten, gängigen Arzneimittel in der Vergangenheit kaum oder gar nicht am weiblichen Organismus erforscht wurden; die Dosierung richtete sich oft nur nach dem Körpergewicht. Doch die männliche und weibliche Leber unterscheiden sich deutlich in ihrer Enzymzusammensetzung, die sich zudem mit dem Alter verändert. Auch ein höherer pH-Wert im weiblichen Magen führt zu einer längeren Verweildauer von Medikamenten in fester Darreichungsform. Der weibliche Zyklus, eine mögliche Schwangerschaft und die Veränderung des Hormonspiegels nach den Wechseljahren erhöhen die Komplexität des Studiendesigns und erschweren die Messbarkeit.
Gender-Medizin für Männer
Auch Männer können durch nicht-gendersensible Medizin benachteiligt werden, etwa bei Depressionen. Aus Sorge vor Stigmatisierung kann eine seelische Erkrankung seitens der Patienten geleugnet werden und bei männlichen Ärzten dazu führen, eine Depression bei einem Patienten eher zu "übersehen" als bei einer Patientin. Eine "männliche" Depression muss sich nicht notwendigerweise durch Rückzug äußern, sondern kann sich auch hinter besonders aggressivem Verhalten, gesteigertem Sucht- oder Risikoverhalten oder auch hinter der exzessiven Ausübung von Sport verbergen.
In einer internationalen Querschnittsstudie von Sawicki (2005) berichteten Frauen im Gegensatz zu Männern häufiger von Doppeluntersuchungen. Gleichzeitig wurde ermittelt, dass Frauen eher Informationsdefizite, wie unzureichende Aufklärung über Behandlungsalternativen, Therapieziele, Warnsymptome und Arzneimittelnebenwirkungen bzgl. Ihrer behandelnden Ärzte bemängelten. Auch die „sprechende Medizin“ hat also in Punkto Geschlechtersensibilität noch Aufholbedarf.
Während der vergangenen vier Jahre sind in der Gesundheitspolitik geschlechterspezifische Aspekte in Medizin und Versorgung als wichtiges Gestaltungskriterium angekommen. Sowohl im Koalitionsvertrag der letzten Legislaturperiode und in Baden-Württemberg als auch in einigen konkreten Gesetzentwürfen wird explizit die Berücksichtigung unterschiedlicher geschlechtsspezifischer Notwendigkeiten angemahnt. Wie es um die ambulante geschlechtersensible Versorgung in Deutschland aussieht, wird eines der Themen des 5. Bundeskongresses Geschlecht & Gesundheit am 11. September 2018 in Berlin.
Dr. Martina Kloepfer
Institut für Gender-Gesundheit
Initiatorin und Präsidentin des Bundeskongresses Gender-Gesundheit
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