Der Koalitionsvertrag hat es in sich für niedergelassene Ärzte: 25 Prozent mehr Arbeit bei gleichem Budget. Statt wie bislang 20 sollen nun mindestens 25 Sprechstunden für gesetzlich Versicherte angeboten werden. Haus- und Heimbesuche, Organisation und Fortbildung sind noch gar nicht berücksichtigt. Das kann weder niedergelassene Ärzte (ganz besonders Hausärzte) noch MFA begeistern.
Laut Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) widmen sich Vertragsärzte pro Woche im Durchschnitt 35,8 Stunden gesetzlich versicherten Patienten, auf Privatpatienten entfallen 5,8 Stunden. Für Unfall- und Krankenhausfälle wenden sie weitere 2,2 Stunden, für Fortbildungen 2,4 Stunden und für das Praxismanagement 4,1 Stunden auf. Die Wochenarbeitszeit von Praxisinhabern mit einer 20-Stunden-Sprechzeitenregelung beträgt also heute schon über 50 Stunden.
Ehrlicherweise muss ich ergänzen, dass im Koalitionsvertrag auch echte Verbesserungen für die Versorgung vereinbart wurden. Die „sprechende Medizin“ soll endlich mehr gefördert werden – darum haben wir lange gekämpft. Und auch regionale Zuschläge für die ärztliche Versorgung in wirtschaftlich schwachen und unterversorgten ländlichen Räumen sind geplant. Das alles ist sinnvoll und richtig, wird aber leider von der unsinnigen Sprechzeiterhöhung überschattet.
Die politische Krake greift um sich
Auch an anderer Stelle können wir nicht zufrieden sein. Denn die Eingriffe der Politik in das Selbstbestimmungsrecht der Ärzteschaft werden immer massiver. Ganz zentral: Das Recht auf eine eigene Gebührenordnung (GOÄ). Union und SPD wollen über eine „wissenschaftliche Kommission“ eine einheitliche gemeinsame Gebührenordnung vorbereiten. Aus konstitutionellen Gründen ist das eigentlich die Aufgabe der Selbstverwaltung. Das stört aber die Koalitionäre wenig.
Die gesamte Vorarbeit für eine novellierte GOÄ, die im Bereich der Leistungsbeschreibungen fertiggestellt ist, ist damit faktisch hinfällig. Jetzt ist es unbedingt nötig, dass Bundesärztekammer und PKV-Verband schnellstmöglich der neuen Gesundheitsministerin Annette Widmann-Mauz das konsentierte Leistungsverzeichnis der GOÄ übergeben – als politisches Zeichen, dass eine aktuelle Gebührenordnung des Freien Berufes Arzt mit dem gesamten Leistungsspektrum fertig vorliegt!
Daneben greift die Politik-Krake auch in die sektorenübergreifende Versorgung ein. In den Zulassungsausschüssen aus Krankenkassen und KVen erhalten jetzt auch die Bundesländer ein Mitberatungs- und Antragsrecht. Anstatt die bestehende und überalterte Bedarfsplanung abzuschaffen, soll sie „kleinräumiger“ werden.
Alle diese Vorhaben sind zusammen genommen ein Misstrauensvotum gegenüber unserer Selbstverwaltung. Diese wird schrittweise abgeschafft, ihre Strukturen werden verstaatlicht. Ich habe deshalb den Koalitionsvertrag öffentlich als „Totenschein für die Selbstverwaltung“ bezeichnet.
Drängende Fragen bleiben
Mit immer neuen Gremien und Kommissionen lässt sich unser Gesundheitssystem nicht positiv weiterentwickeln. Es gäbe so viele dringende Fragen, auf die wir Antworten brauchen:
Umso wichtiger ist es, dass wir diese Fragen öffentlich stellen und die Politik zum Handeln drängen. Dass wir irrsinnige Ideen wie Sprechzeitenerhöhungen mit Fakten und klugen Argumenten auskontern. Dass wir selbst sinnvolle Ideen und Maßnahmen entwickeln, wie die Gesundheitsversorgung in Deutschland besser, moderner, vernetzter und patienten- und ärztefreundlicher wird. Und dass Haus- und Fachärzte nach außen politisch geeint auftreten und klare Grenzen aufzeigen.
Ihr
Dr. med. Dirk Heinrich
Bundesvorsitzender des NAV-Virchow-Bundes
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Der NAV-Virchow-Bund ist der einzige freie ärztliche Verband, der ausschließlich die Interessen aller niederlassungswilligen, niedergelassenen und ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte aller Fachgebiete vertritt.