Nervenzellen können sich stark auf veränderte Eingangssignale der Sinnesorgane einstellen. Nach einer Störung kann das Gehirn zu dem ursprünglich erlernten Aktivitätsmuster zurückkehren. Dies könnte erklären, warum das Hirn trotz Veränderungen nicht alles neu erlernen muss.
Alles, was wir über unsere Umwelt wissen, basiert auf Berechnungen unseres Gehirns. Während das kindliche Gehirn die Regeln der Umwelt erst noch lernen muss, weiß das erwachsene Gehirn, was es erwarten kann, und verarbeitet Umweltreize weitgehend stabil. Doch auch das erwachsene Gehirn ist zeit seines Lebens in der Lage, auf Veränderungen zu reagieren, neue Erinnerungen zu bilden und zu lernen – es ist „plastisch“. Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass Veränderungen in den Nervenzellverbindungen die Grundlage dieser Plastizität sind. Wie kann das Gehirn seine Verbindungen jedoch kontinuierlich verändern und Neues lernen, ohne zum Beispiel die bestehende, stabile Berechnung der Umwelt zu gefährden? Die Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried unter der Leitung von Tobias Bonhoeffer haben untersucht, wie stabil die Verarbeitung von Sinneseindrücken im visuellen Cortex der Maus ist. Seit rund 50 Jahren ist bekannt, dass bei dem zeitweisen Verschluss eines Auges der für dieses Auge zuständige Gehirnbereich zunehmend Signale aus dem noch offenen Auge verarbeitet. Eine Erkenntnis, die im Verwenden von Augenpflastern bei schielenden Kindern eine Anwendung findet. „Dank neuer genetischer Farbstoffe ist es seit kurzem möglich, die Aktivitätssignale einzelner Nervenzellen über lange Zeiträume hinweg zuverlässig zu beobachten“, berichtet Tobias Rose, der Erstautor der Studie. „Mit ein paar weiteren Verbesserungen konnten wir nun erstmals zeigen, was im Gehirn bei diesen Veränderungen passiert.“
Die Wissenschaftler konnten beobachten, dass rund zwei Drittel der Nervenzellen Signale aus dem anderen, offenen Auge übernehmen. „Das wirklich Spannende war jedoch, dass diese Zellen wieder zu ihrer Ursprungsaktivität zurückkehrten, sobald sie wieder Informationen von ‚ihrem‘ Auge erhielten“, berichtet Tobias Rose. Auch bei Wiederholung des Experiments veränderten sich genau dieselben Zellen. Aufgrund der großflächigen Veränderungen in den für die beiden Augen zuständigen Hirnbereichen hatten die Wissenschaftler eher vermutet, dass der Zellverband die erneut eintreffenden Informationen durch neue Verbindungen und das Rekrutieren von neuen Zellen kompensiert. „Es ist fast so, als könnten sich die einzelnen Zellen daran erinnern, wo sie welche Verbindungen vor dem Augenverschluss hatten, um diese dann wieder zu rekonstruieren“, so Rose. Aktive Nervenzellen der visuellen Großhirnrinde der Maus bei veränderten Sinneseindrücken. Die Bilder einer Reihe zeigen jeweils eine einzige Nervenzelle. Jedes Teilbild eines Farbblocks entspricht einer Untersuchung (insgesamt 10) über 2 Monate hinweg:Die Teilbilder des linken Blocks (gelb/rot) zeigen die Struktur einer Nervenzelle. In den mittleren beiden Blöcken entsprechen die Farben der Stärke der Antwort einer Zelle auf Sehreize unterschiedlicher Orientierung. Der zweite Block repräsentiert das Auge, das der untersuchten Hirnhälfte gegenüber liegt (hier: das linke Auge). Der dritte Block entspricht dem rechten Auge.Der rechte Block (blau/rot) stellt die relative Antwortstärke der Zellen bei der Stimulation des dominanten linken (kontralateral) relativ zum rechten Auge (ipsilateral) dar (kontralaterale: blau, ipsilaterale: rot, binokulare Dominanz: weiß). Nach Verschluss des linken kontralateralen Auges nach der 3. und 7. Untersuchung reagieren einige Zellen auf das offengebliebene Auge stärker und erscheinen dadurch rot. © MPI f. Neurobiologie/ Rose Die Ergebnisse legen nahe, dass Nervenzellen, die auf Veränderungen reagieren, einzelne stabile Verbindungen haben, die ihnen eine Rückkehr in ihren ursprünglichen Zustand erlauben. Dies würde es dem erwachsenen Gehirn erlauben, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen, ohne dass sich die Grundverdrahtung komplett verändert. „Solche ‚Rückgratsynapsen‘ wurden vor einiger Zeit in theoretischen Studien postuliert", sagt Tobias Bonhoeffer. „Sie konkret nachzuweisen, wird nun die nächste Herausforderung sein.“ Doch dies ist nicht die einzige Aufgabe, die vor den Forschern liegt: Ein Drittel der Zellen veränderte sich entweder gar nicht, oder verhielt sich im Widerspruch zu klassischen Theorien. „Wir wissen noch nicht genau warum sich diese Zellen so verhalten, aber wir haben schon Ideen, die wir jetzt noch testen müssen“, freut sich Tobias Bonhoeffer auf die weitere Forschung.
Originalpublikation:
Cell-specific restoration of stimulus preference after monocular deprivation in visual cortex. Tobias Rose et al.; Science, doi: 10.1126/science.aad3358; 2016