Nachdem die Spezialabteilung der WHO zuletzt verarbeitetes Fleisch unter die Lupe genommen hat, sind jetzt Heißgetränke dran. Kaffee oder Tee sind entgegen früheren Einschätzungen plötzlich nicht mehr krebserregend. Offen bleibt: Wie gefährlich ist es, alte Studien aufzuwärmen?
Harmlos oder krebserregend – mit dieser Fragestellung befasst sich die Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC, International Agency for Research on Cancer), eine Institution der Weltgesundheitsorganisation WHO. Letztes Jahr sorgten Veröffentlichungen zum Krebsrisiko von Fleisch für Schlagzeilen. Kein Einzelfall: Bereits 1991 hatten IARC-Experten Kaffeegetränke als „möglicherweise krebserregend“ klassifiziert. Mate-Zubereitungen seien sogar „wahrscheinlich krebserregend“, lautete ihr Fazit. Thermische Schädigungen vergrößern die Gefahr eines Plattenepithelkarzinoms. Auch die Inhaltsstoffe standen in der Kritik. Es gebe „begrenzte Hinweise“ für Harnblasenkrebs beim Menschen. Dabei arbeiten IARC-Onkologen mit fünf Kategorien: „karzinogen für Menschen“ (Gruppe 1), „wahrscheinlich karzinogen“ (Gruppe 2A), „möglicherweise karzinogen“ (Gruppe 2B), „keine Einstufung“ (Gruppe 3) und „wahrscheinlich nicht karzinogen“ (Gruppe 4).
Professor Dr. Gerhard Eisenbrand. Foto: Technischen Universität Kaiserslautern Aufgrund der gesellschaftlichen Relevanz - die Mehrzahl aller Menschen konsumiert Speisen, Suppen und Getränke mit Temperaturen zwischen 55 und 70 Grad Celsius - machten sich Forscher erneut ans Werk. In „Lancet Oncology“ rudern sie in weiten Teilen zurück. Sie haben fast 500 epidemiologische Studien unterschiedlicher Zielrichtung, Methodik und Qualität analysiert, die seit ihrer ursprünglichen Eingruppierung von Heißgetränken erschienen waren. Auf dieser Basis stufen Wissenschaftler Kaffee- und Mate-Getränke, die nach europäischer Machart zubereitet werden, nicht mehr als „möglicherweise krebserregend“ ein. „Die neue Bewertung erfolgte in Gruppe 3, also ‚nicht klassifizierbar’: Das bedeutet, die IARC findet keine überzeugenden Hinweise auf einen Zusammenhang von täglichem Kaffeekonsum mit erhöhtem Krebsrisiko des Menschen“, erklärt Professor Dr. Gerhard Eisenbrand von der Technischen Universität Kaiserslautern. „Im Gegenteil, es zeichnet sich ein erniedrigtes Risiko bei einzelnen Krebsarten ab.“ Die IARC erwähnt hier Leberkrebs und Krebs des Endometriums. „Doch auch bei weiteren Krebsarten gibt es in jüngster Zeit Hinweise auf ein erniedrigtes Risiko, zum Beispiel bei Krebs der Harnblase, Speiseröhre, Prostata, denen weiter nachgegangen werden muss“, so Eisenbrand weiter. Die aktuelle Bewertung überrascht. Letztes Jahr kamen chinesische Wissenschaftler um Weixiang Wu noch zu anderen Resultaten. Sie analysierten Kohorten-Studien und Fall-Kontroll-Studien mit insgesamt 250.000 Teilnehmern aus. Hier zeigte sich sehr wohl eine statistische Signifikanz zwischen der Kaffee-Aufnahme und dem Risiko für Harnblasenkarzinom. Raucher, die Kaffee tranken, schnitten etwas besser ab.
Professor Dr. Daniel Palmes. Foto: Universitätsklinikum Münster Auf Basis ihrer Auswertung teilen IARC-Wissenschaftler diese Einschätzung nicht. Gleichzeitig warnen sie vor sehr heißen Lebensmitteln, die zu Speiseröhrenkrebs führen können. „Die Mehrzahl aller Menschen weltweit konsumiert feste Speisen, Suppen und Getränke mit einer Temperatur von 55 bis 70 Grad Celsius“, kommentiert Professor Dr. Daniel Palmes vom Universitätsklinikum Münster. „Mehrere prospektiv-randomisierte Studien und Meta-Analysen konnten eindeutig den Zusammenhang zwischen heißen Getränken und Speisen und einer erhöhten Anzahl an Neuerkrankungen des Speiseröhrenkrebses belegen.“ Als Beleg zitiert er Veröffentlichungen in BMC Cancer und im American Journal of Preventive Medicine. Gerhard Eisenbrand relativiert für Deutschland: Während wir Kaffee und Tee normalerweise ohne Verbrühungsgefahr trinken, wird Mate in Südamerika traditionell über ein metallenes Rohr ohne wirksamer Abkühlung eingesaugt. Hier bestünden hohe Risiken einer chronischen Schädigung der Schleimhaut des Mundes und der Speiseröhre – spätere Tumorbildung nicht ausgeschlossen. Traditionelle Mate-Zubereitung: eine Kalebasse und ein Metalltrinkrohr. Foto: Wikipedia Wird die Barrierefunktion des Plattenepithels unserer Speiseröhre zerstört und kommen kanzerogene Substanzen wie Nitrosamine, Tabak beziehungsweise Alkohol mit hinzu, steigt die Gefahr maligner Erkrankungen. Palmes: „Kaffee hingegen kann diesbezüglich sogar einen protektiven Effekt durch den hohen Polyphenolgehalt haben, der antioxidativ und entzündungshemmend und – gegebenenfalls im Langzeitverlauf antikanzerogen – wirkt.“ Auch Eisenbrand verweist auf wünschenswerte Effekte. Für ihn steht das aromatische Getränk mit verminderten Risiken chronischer Erkrankungen in Zusammenhang, etwa Typ 2-Diabetes. „Zahlreiche weitere Studien – in Zellkultur bis hin zu kontrollierten Interventionsstudien am Menschen – stützen die Ansicht, dass Kaffeekonsum eher mit gesundheitlich schützenden als nachteiligen Effekten verbunden ist.“
Doch wie relevant sind die Ergebnisse tatsächlich? Professor Dr. Ute Nöthlings von der Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn verweist auf wichtigere Karzinogene: „Rauchen ist nach wie vor einer der wesentlichen, änderbaren Risikofaktoren für Blasenkrebs“, so Nöthlings. „Für Speiseröhrenkrebs ist neben Tabakkonsum auch der Konsum von Alkohol einer der bekannten vermeidbaren Risikofaktoren.“ Gleichzeitig verliert die Wissenschaft viel von ihrer Glaubwürdigkeit. Erst riskant, plötzlich harmlos - das lässt sich Laien schwer vermitteln. Zentrale Botschaften, nämlich Speisen und Getränke nicht brühwarm zu konsumieren, bleiben da auf der Strecke.