Ich glaube, wir Ärzte haben das Kleinhirn lange in seiner Bedeutung unterschätzt, weil wir es fast ausschließlich mit motorischer Koordination in Verbindung gebracht haben. Eine Sichtweise, die sich derzeit ändert: Das Kleinhirn trägt auch dazu bei, gefühlsgesteuert zu handeln.
Das völlig unterschätzte Kleinhirn. Auch wir Neurologen haben da was nachzuholen. Zu dieser Ansicht bin ich zunächst für mich selber gekommen, anlässlich eines gerade erstellten Gutachtens, bei dem ich mich näher mit aktuellen Theorien zur Kleinhirnfunktion auseinandersetzen musste.
Otto Waalkes hat das mit dem Kleinhirn übrigens schon lange gewusst. In seinem berühmten Sketch „Über den menschlichen Körper“ aus dem Jahr 1972 schaltet sich das Kleinhirn am Ende folgendermaßen ein: „Kleinhirn an Großhirn, Kleinhirn an Großhirn, Jungs nu lasst doch mal die Aufregung, ihr zieht doch sowieso den Kürzeren.“ Daraufhin wird die Faust nicht ausgefahren und derjenige, der gerade „Saufkopf“ gesagt hat, bekommt keinen Schlag ins Gesicht, sondern man bestellt stattdessen zwei Bier, eins für das Gegenüber und eins für die eigene Leber. Höchstwahrscheinlich die klügere Entscheidung, insbesondere da das Gegenüber deutlich größer und stärker war.
Neben dem humortechnischen Quantensprung ist an dem Sketch interessant, dass das Kleinhirn nicht mehr allein auf die Rolle beschränkt wird, dafür zu sorgen, dass die Faust exakt im Ziel landet, sondern es modifiziert Verhalten durch die Antizipation unangenehmer Konsequenzen.
Traditionell haben wir Ärzte und besonders die Neurologen, als Fachleute für das Nervensystem, das Kleinhirn fast ausschließlich mit motorischer Koordination in Verbindung gebracht, eine Sichtweise, die sich erst in den letzten Jahren ändert. Ein Kardinalsymptom der Beeinträchtigung der motorischen Kleinhirnfunktion ist die Dysmetrie. Hierbei verfehlt eine Bewegung ihr Ziel – in der klinisch-neurologischen Untersuchung typischerweise geprüft durch das sogenannte Fingerverfolgen (finger chase) – indem sie entweder zu kurz ausfällt (Hypometrie) oder über das Ziel hinausgeht (Hypermetrie).
Die Dysmetrie wird dadurch erklärt, dass das Kleinhirn nicht mehr akkurat im Voraus abschätzen kann, mit welcher Dynamik eine Bewegung ausgeführt werden muss, damit sie den jeweiligen Anforderungen entspricht, also im genannten Beispiel, dass die Fingerspitze des Patienten exakt die Fingerspitze des Untersuchers berührt.
In den letzten 20 Jahren wird zunehmend die Rolle des Kleinhirns bei kognitiven und affektiven Funktionen herausgestellt. Jeremy Schmahmann (1998, 2018) hat dazu den Begriff der Dysmetrie des Denkens (dysmetria of thought) geprägt, der zum Ausdruck bringen soll, dass das Kleinhirn die Dynamik affektiver und kognitiver Prozesse in analoger Weise koordiniert wie bei motorischen Funktionen.
Wie genau das passiert, ist bisher nicht klar (verschiedene aktuelle Theorien zur Kleinhirnfunktion werden in einer Übersichtsarbeit präsentiert; Koziol et al. 2014). Eine Studie von Clausi und Kollegen aus 2015 zeigt, dass Patienten mit zerebellären Läsionen sehr wohl in der Lage waren, aus falschen Entscheidungen in einer Spielsituation mit verschiedenen Wahlmöglichkeiten, die richtigen Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen und so fehlerhafte Entscheidungen zu vermeiden. Sie waren aber nicht in der Lage das subjektive Gefühl des Bedauerns über eine falsche Entscheidung in seiner Stärke richtig einzuschätzen.
Das wurde von den Autoren so interpretiert, dass das Kleinhirn dazu beiträgt, gefühlsgesteuert zu handeln, aber im Gegensatz zum frontalen Cortex („Großhirn“) nicht für das rationale und explizite Abwägen verschiedener Entscheidungskonsequenzen gegeneinander zuständig ist.
Zurück zum Sketch von Otto Waalkes könnte das heißen, dass das Kleinhirn dem Großhirn zwar ziemlich negative Gefühle mit Bezug auf die beabsichtigte Handlung signalisieren kann, dass aber das Großhirn am Ende allein entscheiden muss, ob es das wirklich tut, was es vorhat.
Literatur:
Clausi S. et al. (2015) Cerebellar damage impairs the self-rating of regret feeling in a gambling task. Front Behav Neurosc, 9: 1-10. Koziol L.F. et al. (2014) Consensus paper: The cerebellum’s role in movement and cognition. Cerebellum, 13: 151-177. Schmahmann, J. (2018) The cerebellum and cognition. Neurosci Lett., Jul 8. pii: S0304- 3940(18)30467-1. doi: 10.1016/j.neulet.2018.07.005. [Epub ahead of print] Schmahmann, J. (1998) Dysmetria of thought: clinical consequences of cerebellar dysfunction on cognition and affect. Trends Cogn Sci, 2: 362-371.