In einer aktuellen Studie haben Forscher der Harvard University gezeigt, wie der Mensch das von ihm Wahrgenommene aus dem Kontext vorangegangener Reize interpretiert. Sie führten drei Versuchsmodelle durch, in denen die Teilnehmer aufeinanderfolgende Signale nach festgelegten Kriterien bewerten mussten.
Hierbei stellten sie fest, dass obwohl die Signale eines Kriteriums abnahmen, die Teilnehmer stattdessen anderen Signalen dieses Kriterium zuwiesen. In einem der Versuche wurden fortlaufend Punkte aus dem blauen und violetten Farbspektrum gezeigt, die die Teilnehmer als blau oder nicht blau bewerten mussten. Unter den ersten 200 gezeigten Punkten waren genauso viele blaue wie violette, bei den folgenden 800 nahm die Anzahl der blauen Punkte stetig ab. Das spiegelten die Antworten aber nicht wider. „Als blaue Punkte selten wurden, begannen die Teilnehmer, violette Punkte als blau zu sehen“, schrieben die Forscher.
Die Wissenschaftler vermuten, dass das menschliche Gehirn nicht nach strikten Regeln entscheidet, sondern aus dem vorangegangenen Kontext. Nach Abnahme der blauen Kreise weiteten die Teilnehmer die Definition aus, welche Farbspektren für sie als blau galten. Der gleiche Effekt zeigte sich bei der Identifizierung „bedrohlicher“, computergenerierter Gesichter unter „nicht bedrohlichen“ Avataren sowie bei der Einordnung von Studien als „ethisch“ und „nicht ethisch“. Als beispielsweise die Zahl der unethischen Vorschläge abnahm, änderten die Teilnehmer erneut ihre Wahrnehmung und begannen, ethische Vorschläge als unethisch zu bewerten.
Dieses Phänomen könnte weitreichende Auswirkungen haben und beispielsweise erklären, warum die meisten Menschen in modernen Gesellschaften glauben, dass die Welt immer schlimmer wird, obwohl diese Gesellschaften Fortschritte bei der Lösung zahlreicher sozialer Probleme gemacht haben - so eine Schlussfolgerung der Forscher.
Studie: © David E. Levari / Science / http://redirect.doccheck.com/846-science-1465