Am 23. Juni stimmten 51,9 Prozent aller Wahlberechtigten des Vereinigten Königreichs für einen Austritt aus der EU. Nicht nur Finanzmärkte sind in Aufruhr. Die Folgen für unser Gesundheitssystem lassen sich derzeit kaum abschätzen.
Eine folgenschwere Entscheidung: Bereits im Jahr 2013 hatte Premierminister David Cameron versucht, Euroskeptikern den Wind aus ihren Segeln zu nehmen. Er schlug ein Referendum über den Verbleib in der Europäischen Union vor – mit fatalem Ausgang: Jetzt hat sich eine knappe Mehrheit dafür ausgesprochen, der EU den Rücken zu kehren. Während im Inselstaat das große Stühlerücken beginnt, als möglicher Nachfolger Camerons gelten die Brexit-Befürworter Boris Johnson oder Michael Gove, befürchten Health Professionals Folgen für Deutschland.
Arzneimittelhersteller trifft der Brexit besonders hart. „Die pharmazeutische Industrie ist durch die enge Verflechtung Großbritanniens in der Europäischen Union gekennzeichnet“, erklärt Dr. Martin Zentgraf, Vorstand des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie (BPI). „Uns verbinden über Jahrzehnte gewachsene wechselseitige Handelsverbindungen, die wir nun innerhalb von kurzer Zeit auf eine neue Grundlage stellen müssen – soweit dies überhaupt möglich sein wird. Auf Unternehmen sieht er „große Anstrengungen“ sowie „bürokratische Hürden“ zukommen. Zentgraf fürchtet um die „Errungenschaften der Arzneimittelversorgung in Europa“. Ähnlich äußert sich Dr. Hermann Kortland, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittelhersteller (BAH): „Wir bedauern das Ergebnis der Abstimmung zutiefst und halten es für politisch wie wirtschaftlich verheerend.“
Neben Herstellern gerät auch der pharmazeutische Großhandel ist in die Schusslinie. Vordergründig äußern Branchengiganten lediglich ihr Bedauern über den Brexit. Tatsächlich können sie wirtschaftliche Folgen nicht beziffern. Für Celesio ist Großbritannien ohnehin ein heißes Pflaster. Das bereinigte Ergebnis vor Zinsen und Steuern (Ebit) sank im Geschäftsjahr 2015/2016 um 3,1 Prozent auf 426,6 Millionen Euro – unter anderem durch staatlich verordnete Preissenkungen im Inselstaat. Celesio erwirtschaftet etwa ein Drittel des Konzernumsatzes von 21,4 Milliarden Euro in UK. Mitte 2015 erwarb die Celesio-Tochter Lloyds Pharmacy 281 Apotheken von Sainsbury’s für 125 Millionen Britische Pfund, also 176 Millionen Euro nach dem damaligen Kurs. Als weiteres Standbein ist der Pharmagroßhändler AAH Pharmaceuticals in Großbritannien präsent. Kein Einzelfall: Phoenix erwirtschaftet auf auf der Insel rund sieben Prozent des Gesamtumsatzes von 23,2 Milliarden Euro. Reimporteure sind ebenfalls besorgt. Brancheninsider befürchten Einbußen durch Hürden bei Parallelimporten. Filiale von Lloyds Pharmacy in Garforth, Yorkshire. Foto: wikimedia
Vom Handel zur Verwaltung. Eines der ersten administrativen Brexit-Opfer könnte die europäische Arzneimittel-Agentur EMA in London werden. „Die Behörde wird einen neuen Sitz nehmen müssen; die Verfahren werden in Zukunft woanders organisiert. Dadurch dürfen die pharmazeutischen Unternehmen nicht belastet werden“, so Martin Zentgraf. Im Februar hatte Anders Blanck, Chef des Pharmaverbands LIF, Interesse signalisiert und Schweden als Sitz ins Gespräch gebracht. Deutschland lässt sich nicht lumpen. Der BAH bringt Bonn als konkreten Vorschlag in das Gespräch. Die Stadt sei „ein bedeutender Standort rund um die Zulassung und Sicherheit von Arzneimitteln“, allein schon aufgrund des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). Außerdem haben viele pharmazeutischen Hersteller ihren Sitz entlang der sogenannten Rheinschiene – Büros des BAH und es Bundesgesundheitsministeriums mit inbegriffen.
Apropos Bundesgesundheitsministerium: Zumindest ein heißes Eisen könnte Hermann Gröhe (CDU) durch den Brexit bald vom Tisch haben: Rezepte der Online-Praxis DrEd. DrEd bietet Patienten deuschsprachige Online-Konsultationen inklusive Verordnung an. Screenshot: DocCheck Union und Sozialdemokraten wollen Verschreibungen ohne persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient über ihre vierte AMG-Novelle einen Riegel vorschieben, doch mehrere Parlamentarier signalisierten bereits Widerstand. Die Arzneimittelverschreibungsverordnung (AMVV) stellt in Paragraph 2 „Verschreibungen aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, aus den Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum und aus der Schweiz“ gleich. Falls Großbritannien seinen jetzt eingeschlagenen Kurs fortsetzt, müssten deutsche Apotheken Rezepte aus London bald nicht mehr akzeptieren. Bleibt noch als Umweg, Medikamente über britische Versender nach Deutschland zu schicken – deren Zulassung steht momentan nicht zur Disposition. Fraglich ist jedoch, ob sich Großbritannien weiter an europäische Regelwerke hält. Zuletzt hatten alle Mitgliedsstaaten Richtlinien zur Arzneimittelsicherheit paraphiert. Deutschland setzt die Vorgaben über securPharm um. Jetzt könnte der Inselstaat davon abrücken.
Ganz so schnell wird sich Großbritannien jedoch nicht von allen Verpflichtungen lösen. Basis eines Austritts ist Artikel 50 des EU-Vertrags. „Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird“, heißt es im Dokument. Beobachter erwarten, die EU werde dem abtrünnigen Staat möglichst viele Steine in den Weg legen, um Nachahmer abzuschrecken. Bis zur Lösung aller vertraglichen Bindungen zwischen Brüssel und London wird es rund zwei Jahre dauern.