Immer häufiger nehmen sich Menschen weltweit das Leben. Wissenschaftler haben untersucht, welche präventiven Maßnahmen wirken. Sie empfehlen, Risikofaktoren zu identifizieren, gezielt zu informieren und Möglichkeiten der Selbsttötung einzuschränken.
Laut World Suicide Report der Weltgesundheitsorganisation WHO nehmen sich insgesamt 800.000 Menschen pro Jahr ihr Leben, sprich 11,4 Suizide pro 100.000 Personen. Eine aktuell veröffentlichte Studie des Nationalen Zentrums für Gesundheitsstatistik (NCHS) in den USA zeigt, dass die Zahl der Suizide von 1999 bis 2014 um fast 24 Prozent angestiegen ist. Die Suizide können sogar geographisch zugeordnet werden und so existiert in den Vereinigten Staaten seit wenigen Jahren der Begriff „Suicide belt”. Damit ist der Westen der USA mit den Bundestaaten Arizona, Colorado, Idaho, Montana, Nevada, New Mexico, Oregon, Utah und Wyoming gemeint. Hier ist die Suizid-Rate besonders hoch im Vergleich zum nationalen Durchschnitt. Welche Möglichkeiten haben Ärzte, aber auch Behörden und Regierungen, um Selbsttötungen zu vermeiden? Todesfälle durch Selbstverletzungen, jeweils pro 100.000 Einwohner © Wikipedia
Health Professionals versuchen an erster Stelle, gefährdete Personen zu identifizieren. Biomarker auf epigenetischer Basis gelten bei Forschern als zukunftsträchtige Möglichkeit. Bis zur Praxis ist der Weg aber noch weit. Damit bleiben Klassiker wie das schon vor Jahrzehnten vom Psychiater Erwin Ringel beschriebene präsuizidale Syndrom aus Einengung, Aggressionsumkehr und Suizidphantasien. Mittlerweile kommen Daten aus epidemiologischen Untersuchungen hinzu. Etwa 70 Prozent aller Suizidopfer sind Männer, berichtet die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Das Risiko steigt generell mit dem Lebensalter. Durch Selbsttötung Verstorbene sind im Schnitt 57 Jahre alt. Menschen mit gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung und junge Frauen mit Migrationshintergrund sind auch gefährdet. Traumatische Ereignisse wie der Verlust wichtiger Bezugspersonen oder schwerwiegende ärztliche Diagnosen gelten als kritisch. Carolin Donath von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg kam bei Jugendlichen zu einer in Teilen abweichenden Einschätzung. Ihre Studie mit 44.000 Jugendlichen zeigt, dass je nach Patientengruppe große Unterschiede auftreten. Bei Jugendlichen sind nicht etwa Jungen besonders gefährdet, sondern die Forscherin bewertet ein weibliches Geschlecht als Risikofaktor. Aber auch ärztlich gestellte ADHS-Diagnosen, Nikotinkonsum, Rauschtrinken in den letzten vier Wochen, Schulverweigerung, Trennungserlebnisse in der Kindheit, einen Migrationshintergrund sowie einen vernachlässigenden Erziehungsstil sind mögliche Risikofaktoren. Mediziner sollten bei bestimmten Grunderkrankungen ebenfalls hellhörig werden. Donald A. Redelmeier, Toronto, berichtet auf Basis einer Kohortenstudie, dass Gehirnerschütterungen das Suizidrisiko bei Erwachsenen langfristig erhöhen. Auch bei Patienten mit chronischem Erschöpfungssyndrom (CFS) kam es häufiger zu Selbsttötungen, schreibt Emmert Roberts, London.
Finden Kollegen diese Grunderkrankungen, steht eine ursächliche Therapie an erster Stelle. Ansonsten greifen sie zu Clozapin und zu Lithium. Valproat könnte Gil Zalsman zufolge bei bipolarer Störung wertvoll sein. Depressionen sollten leitliniengerecht therapiert werden. Fluoxetin, Zalsmans erste Empfehlung, habe mehreren Studien zufolge das Suizidrisiko bei Patienten über 75 Jahren verringert. Und bei Jugendlichen sowie bei Erwachsenen würden Selbstmordgedanken reduziert, schreibt der Forscher. Ob SSRI zu mehr Selbstmordgedanken oder Suiziden führen, ist wissenschaftlich umstritten. Ältere Studien stellen einen Zusammenhang her, während neuere - teils industriefinanzierte - Arbeiten Entwarnung geben. Carol Coupland, Professorin für medizinische Statistik an der University of Nottingham, sieht keinen Unterschied zwischen SSRI und Trizyklika. Sie rät Ärzten, ihre Patienten während der ersten 28 Tage ihrer Pharmakotherapie besonders gründlich zu überwachen. Die FDA hält an ihrem Warnhinweis („Black Box Warning“) jedenfalls fest: „Antidepressants increased the risk compared to placebo of suicidal thinking and behavior (suicidality) in children, adolescents, and young adults in short-term studies of major depressive disorder (MDD) and other psychiatric disorders.“ Früher oder später könnten auch hier Biomarker zum Einsatz kommen. Bleibt als Fazit, dass es keine Wunderpille gegen Suizid gibt. Eine Schlagwortsuche bei AWMF online zeigt, wie komplex die Materie ist. Hier greifen unter anderem die Leitlinien Suizidalität im Kindes- und Jugendalter, Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Bipolare Störungen, Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression, die Leitlinie Essstörungen, Diagnostik und Therapie und viele weitere.
Schulische Aufklärungsprogramme hätten die Häufigkeit von Suizidversuchen und Suizidgedanken zwar halbiert, so Zalsman weiter. Er fand jedoch keinen Hinweis, dass gemeinschafts- oder familienbasierende Interventionen Selbsttötungen verhindern. Als unterstützende Maßnahmen hätten sie trotzdem ihre Berechtigung. In Deutschland zeigten Forscher mit ihrem „Nürnberger Bündnis gegen Depression“ als Pilotprojekt, dass präventive Maßnahmen fruchten. Sie schulten Hausärzte, entwickelten professionelle PR-Materialien und informierten Multiplikatoren, beispielsweise Pflegekräfte oder Lehrer. Nach zwei Jahren ging die Gesamtzahl aller Suizide plus Suizidversuche im Vergleich zu einer Kontrollregion signifikant um 24 Prozent zurück. Medien können auch das Gegenteil bewirken, Experten sprechen vom Werther-Effekt. „In den Tagen nach dem Suizid von Robert Enke hat es einen deutlichen Anstieg von Suiziden nach dem gleichen Muster gegeben, nach Datenlage sogar auch noch einmal nach der Gedenkfeier", berichtet die DGS. Sie hat deshalb eigene Empfehlungen für Journalisten veröffentlicht. Auch der Presserat fordert Zurückhaltung bei der Berichterstattung - nicht ohne Grund. In den USA hatten FDA-Warnungen vor Antidepressiva dazu geführt, dass es mehr Suizidversuche mit den Wirkstoffen gab.
Bleibt noch, Möglichkeiten des Suizids zu reglementieren. Als besonders erfolgversprechend bewerten Wissenschaftler staatliche Einschränkungen bei Schusswaffen. Befanden sich Pistolen oder Gewehre im Haushalt, erhöhte sich die Suizidrate um das 3,2-fache. Ob strengere Gesetze in einzelnen US-Bundesstaaten speziell gegen Selbsttötungen hilfreich sind, konnte Zalsman nicht belegen. Klarer war der Zusammenhang bei Brücken. Hinweisschilder, Telefone, Zäune und Gitter zeigten Wirkung. An berüchtigten „Hot Spots“ verringerte sich die Zahl an Selbsttötungen um 86 Prozent. An der Golden Gate Bridge in San Francisco versuchen Behörden mit Hinweisen, Menschen vom Selbstmord abzuhalten © Wikipedia Arzneimittelrechtliche Änderungen leisten ebenfalls einen Beitrag zur Suizidprävention, wie ältere Daten aus Großbritannien zeigen. Stein des Anstoßes war Co-proxamol, ein Kombinationspräparat mit Paracetamol plus Dextropropoxyphen, das hier zu Lande nicht erhältlich ist. Dextropropoxyphen, ein Opioid, dämpft die Atmung, kann aber auch zu Herzrhythmusstörungen führen. Neben unfreiwilligen Medikationsfehlern mit Todesfolge führten britische Forscher ein Fünftel aller Suizide durch Pharmaka auf Co-proxamol zurück. Deshalb beschloss die Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency (MHRA), bestehenden Zulassungen bis Ende 2007 auslaufen zu lassen. Ärzte konnten das Präparat nur noch mit einer Sondergenehmigung verordnen – und Suizide durch Co-proxamol sanken schlagartig um 62 Prozent. Langfristig ist von 43 Prozent die Rede. Bei Paracetamol verringerte sich in Großbritannien durch kleinere Packungsgrößen die Zahl beabsichtigter oder unbeabsichtigter Vergiftungen. Um Selbstmorde zu vermeiden, sind gemeinsame Aktionen von Ärzten und Regierungen besonders vielversprechend.