Wie normal dürfen Übergewicht und Adipositas sein? Die Gesellschaft fordert Akzeptanz, Ärzte warnen vor gesundheitlichen Risiken. Ein Trend verdeutlicht den Konflikt: Immer mehr Übergewichtige nehmen ihr Gewicht verzerrt wahr und sehen keinen Grund, abzunehmen.
Unsere Definition von Körperidealen wird flexibler. Das merkt man besonders in der Modewelt: Plus-Size-Models haben gesellschaftlich an Akzeptanz und Bedeutung gewonnen und helfen übergewichtigen Menschen, sich im eigenen Körper wohl zu fühlen. Aus gesellschaftlicher Sicht ist dieser Wandel eine Errungenschaft. Aus medizinischer Perspektive ist Übergewicht dennoch ein Risikofaktor für zahlreiche Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleber oder Krebs.
Das Bewusstsein für einen gesunden Körper und Prävention scheint in Deutschland zu wachsen: Jeder Zehnte besucht heute ein Fitnessstudio, heißt es in einem Bericht der FAZ aus dem Vorjahr. Innerhalb der letzten fünf Jahre kamen 2,2 Millionen neue Kunden hinzu. Dass sich immer mehr Menschen intensiv mit ihrer eigenen Gesundheit auseinandersetzen, wird auch durch die steigende Zahl an Ernährungs- und Fitness-Influencern deutlich, die gesunde Rezepte oder Trainingseinheiten auf Youtube oder Instagram teilen.
Es macht also einen deutlichen Unterschied, ob man das Thema Übergewicht aus gesellschaftlicher oder medizinischer Perspektive diskutiert. Hier treffen zwei Sichtweisen aufeinander, die sich nicht so einfach vereinbaren lassen. Ist das ein Problem?
Dieser Frage ging Dr. Raya Muttarak auf den Grund. Die Soziologin arbeitet an der University of East Anglia (UEA) und beschäftigt sich mit internationalen Bevölkerungsentwicklungen. Sie setzte es sich zum Ziel, die Lage in Großbritannien genauer zu untersuchen, wo die Zahl der adipösen Menschen seit Jahren zunimmt. Laut dem OECD-Report „Obesity Update 2017“ der Organisation for Economic Co-operation and Development sind etwa 60 % der Erwachsenen in Großbritannien übergewichtig oder adipös. Dass Menschen mit Übergröße in der Gesellschaft nicht mehr stigmatisiert werden, ist eine Veränderung, die von der Soziologin als Prozess der Normalisierung bezeichnet wird. Diese birgt allerdings auch Gefahren, glaubt Muttarak.
Für ihre Studie führte die Soziologin Regressionsanalysen indem sie Ergebnisse einer großen Umfrage auswertete: Die Health Survey for England wurde in den Jahren 1997, 1998, 2002, 2014 und 2015 mit Personen mit einem BMI von mindestens 25 durchgeführt. Ab diesem Wert gilt man als übergewichtig, Adipositas beginnt ab einem BMI von 30. Analysiert wurden die Daten von 23.459 Personen, davon waren zwei Drittel als übergewichtig und ein Drittel als adipös eingestuft. Die Studienautorin berichtet über eine zunehmende Fehlwahrnehmung in Bezug auf das eigene Gewicht in Großbritannien. Besonders Männer und Erwachsene mit niedrigem Bildungsniveau oder Einkommen unterschätzten ihr Körpergewicht und hätten deshalb wenig Ambitionen, abzunehmen, so die Folgerung.
Das Ergebnis der Studie: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine übergewichtige Person abnehmen möchte, liegt bei jenen, die ihr Gewicht unterschätzen, um 85 Prozent niedriger als bei jenen, die genau über ihren Gewichtsstatus Bescheid wissen. Und genau diese Gruppe der Unwissenden wird immer größer: Die Studienautorin verglich die Werte innerhalb des Zeitraums von 1997 bis 2015. Die Zahl der Übergewichtigen, die eine falsche Wahrnehmung ihres Körpergewichts haben, ist bei Männern von 48,4 Prozent im Jahr 1997 auf 57,9 Prozent im Jahr 2015 gestiegen, bei Frauen immerhin von 24,5 auf 30,6 Prozent.
Muttarak beobachtet zudem einen milieubedingten Gewöhneffekt: „Die höhere Prävalenz von Übergewicht und Adipositas bei Menschen mit niedrigerem Bildungsniveau und Einkommen könnte auch zu einer visuellen Normalisierung beitragen. Das heißt, diese Gruppe kommt regelmäßiger mit anderen Menschen mit Übergewicht in Kontakt als Menschen mit höherem sozioökonomischen Status.“ Eine spannende Frage, auf die Muttarak nicht eingeht: Ist diese Gewöhnung rein milieubedingt? Oder ist es denkbar, dass sich der Effekt auch bei Ärzten einstellt, die täglich mit übergewichtigen Patienten zu tun haben? Eine derart verschobene Wahrnehmung der Ärzte könnte Auswirkungen auf die Behandlung von übergewichtigen und adipösen Patienten haben.
Die Modeindustrie habe in diesem Zusammenhang eine große Verantwortung, so die Soziologin. „Händler sehen in der Übergrößen-Modeindustrie großes Potenzial und dürften zur Normalisierung, übergewichtig oder adipös zu sein, beigetragen haben.“
Die These der Forscherin: „Während dieser positive Umgang mit dem eigenen Körper dabei hilft, die Stigmatisierung von Übergewichtigen zu reduzieren, kann er auch das Anerkennen des eigenen Übergewichts und die damit verbundenen gesundheitlichen Auswirkungen beeinträchtigen. Der Anstieg von Menschen in England, die ihr eigenes Körpergewicht verzerrt wahrnehmen, ist alarmierend und könnte eine Folge dieser Normalisierung sein.“ Ihr Fazit basiert zum Teil auf Fakten, zum Teil auf Theorie: Die steigende Tendenz bei Übergewichtigen, ihr eigenes Körpergewicht zu unterschätzen, ist etwas, das sich messen lässt. Doch lässt sich diese Entwicklung damit begründen, dass sich die gesellschaftliche Definition eines schönen Körpers verändert hat? Auch wenn die Schlussfolgerung plausibel klingt, empirisch beweisen lässt sie sich nicht. „Ich finde die Kernaussage dieser Studie spannend und kann mir gut vorstellen, dass an der Theorie etwas dran ist,“ sagt Dr. Jörn Schattenberg von der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Wie gesellschaftlich mit dem Thema Übergewicht und Abnehmen umgegangen wird, sei problematisch. Viel zu sehr gehe es in der Abnehm-Debatte um optische Ideale, gibt er zu bedenken. Der Facharzt für Innere Medizin hat etwa mit adipösen Patienten zu tun, wenn er sie wegen einer Fettleber behandelt. „Wenn man über die Notwendigkeit eines Gewichtsverlust spricht, muss der Gesundheitsaspekt viel mehr in den Vordergrund rücken. Man nimmt nicht ab, um so auszusehen wie ein Cover-Model, sondern um gesund zu sein“, betont er.
Doch selbst wenn der Wille, abzunehmen da ist, gibt es andere Hürden, die zu bewältigen sind. Die sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen spielt hier eine bedeutende Rolle. Denn ein gesunder Lebensstil geht häufig mit Mehrkosten einher. Als Beispiel nennt Muttarak die Ernährung: „Der Preis von frischem Obst und Gemüse ist häufig höher als der von verarbeiteten und kalorienreichen Lebensmitteln.“ Der innere Kampf gegen Übergewicht und Adipositas ist auch ohne eine verzerrte Wahrnehmung schwer genug, wie Schattenberg betont: „In der Sprechstunde an der Klinik sehe ich vor allem Patienten, die das Körpergewicht als problematisch erkennen und als Folgen des Übergewichts auch schon in Behandlung der damit einhergehenden Komplikationen sind. Dazu zählen Diabetes, Fettstoffwechselstörungen und Bluthochdruck.“
Das Problem sieht Schattenberg darin, dass unser Gesundheitssystem darauf ausgerichtet ist, an die Willenskraft des Patienten zu appellieren, aber nicht mehr als das. „Viele Patienten sagen, dass sie nicht aus eigener Kraft einen Weg finden, um das Gewicht nachhaltig zu reduzieren und dass in weiterer Folge eine gewisse Resignation eintritt.“ Damit es nicht zu einer solchen Stagnation komme, dürfe man den Patienten an diesem Punkt nicht allein lassen. Das sei allerdings leichter gesagt als getan, denn es fehle an Geld und Zeit, kritisiert Schattenberg: „Ich glaube, dass wir diesen Patienten Schulungen anbieten und sie enger begleiten müssten, als dies heute möglich ist.“