Ein radikales Verfahren scheint MS stoppen zu können – doch die Behandlung ist lebensgefährlich. Zuerst töteten die Forscher das Immunsystem der Patienten durch eine Chemotherapie nahezu vollständig ab. Dann transplantierten sie ihnen autologe Stammzellen.
Multiple Sklerose kann sehr unterschiedlich verlaufen. Allen Erscheinungsformen gemeinsam ist, dass Medikamente die Krankheit nicht heilen können. Sie können die MS nie stoppen, sondern allenfalls deren Verlauf abbremsen. Im fortgeschrittenen Stadium sind Medikamente in der Regel gar nicht mehr wirksam. Mit einer extremen neuen Form der Behandlung gelang Forschern nun genau das: In einer Studie[Paywall], die jetzt im Lancet veröffentlicht wurde, konnten sie bei einer kleinen Gruppe von Patienten die Multiple Sklerose stoppen. Ein Proband verstarb jedoch an den Folgen der radikalen Behandlung. Die Wissenschaftler der University of Ottawa hatten ein Verfahren getestet, das ansonsten bei der Therapie von Leukämien angewandt wird: Sie inaktivierten das Immunsystem der Patienten, und transplantierten ihnen dann eigene hämatopoetische Stammzellen, die sie zuvor entnommen hatten.
In der Therapie der Multiplen Sklerose wird seit langem versucht, das Immunsystem zu unterdrücken. Und seit jeher besteht das Problem, Nebenwirkungen unter Kontrolle zu halten. Die kanadischen Forscher gingen in ihrem Versuch nun noch weiter: Sie töteten das Immunsystem der Patienten durch eine Chemotherapie nahezu vollständig ab, bevor sie ihnen autologe Stammzellen transplantierten.
Für ihre Versuche in drei kanadischen Krankenhäusern wählten die Forscher Probanden mit MS aus, die eine schlechte Prognose hatten, und bereits durch die Krankheit beeinträchtigt waren. Die Versuchsteilnehmer hatten nach Expanded Disability Status Scale (EDSS) einen Behinderungsgrad zwischen 3 und 6 und waren zwischen 18 und 50 Jahre alt. Ihnen wurde zunächst Knochenmark entnommen und als Reserve konserviert. Dann regten die Forscher hämatopoetische Stammzellen der Probanden zum Zirkulieren an, um sie aus deren Blut zu gewinnen. Anschließend befreiten sie das gewonnene Stammzelltransplantat noch mithilfe von CD34 - Antikörpern von reifen Immunzellen. Ziel war es, so das immunologische Gedächtnis der Patienten zu löschen: Damit das Immunsystem aufhören würde, Myelin zu zerstören. Die Versuchsteilnehmer erhielten dann über mehrere Tage hinweg die Zytostatika Busulfan und Cyclophosphamid, sowie Antithymozytenglobulin (ATG) vom Kaninchen, ein Antikörpergemisch gegen Immunzellen. 48 Stunden nach der letzten Dosis der Chemotherapie wurden den Probanden ihre eigenen Stammzellen transplantiert.
Bei einem Teil der Versuchsteilnehmer verlief die Behandlung erfolgreich. Die MS war bei 16 von ihnen zum Stillstand gekommen. Innerhalb der Nachbeobachtungszeit von durchschnittlich sechseinhalb Jahren hatten sie keine klinischen Rückfälle und keine neuen Entzündungsherde im Gehirn. Bei einigen bildeten sich durch die MS erworbene Beeinträchtigungen sogar teilweise wieder zurück. Bei sieben Patienten hingegen schritt die Krankheit trotz der Behandlung fort. Ein Proband überlebte die Radikalkur erst gar nicht. Durch eine toxische Schädigung der Leber verstopften seine Lebervenen – eine häufige Komplikation bei der Behandlung mit Zytostatika. Er erlitt außerdem eine Klebsiella-Sepsis. Zwei Monate nach der Behandlung verstarb der Versuchsteilnehmer wegen massiver Lebernekrosen. Ein weiterer Proband musste – ebenfalls wegen Leberschäden – intensivmedizinisch behandelt werden, überlebte jedoch. Viele weitere Patienten entwickelten zum Teil starke Nebenwirkungen. Die „Überlebensrate‟ bewege sich im üblichen Rahmen bei Knochenmarktransplantationen, schreiben dazu die Autoren. Die Risiken seien bekannt gewesen.
Auch wenn die gelungene Heilung einiger Probanden beachtlich erscheint: Für eine klinische Anwendung bleibt das Verfahren ungeeignet. Der Preis, den Patienten für einen möglichen Behandlungserfolg bezahlen würden, wäre zu hoch. Sie müssten ihr Leben riskieren, und das, obwohl die Heilung nicht einmal garantiert wäre. Dabei ist die MS, anders als Leukämie, in der Regel keine tödliche Krankheit. Man kann sogar fraglich finden, dass ein derartig riskantes Verfahren hier überhaupt angewendet wurde. Zudem ist der Verlauf der MS schwer vorherzubestimmen. Weil sie bei jedem Patienten anders ausgeprägt ist, wird sie auch als Krankheit der 1.000 Gesichter bezeichnet. Bei ihren Probanden nahmen die Wissenschaftler lediglich an, dass die Krankheit innerhalb der nächsten 10 Jahre deutlich fortschreiten würde. Ob deren Lebensqualität sich so stark verschlechtern würde, das lebensgefährdende Maßnahmen vorab gerechtfertigt waren, ließ sich nicht sicher sagen. Auch für die Patienten selbst ist so etwas eine kaum abwägbare, zutiefst schwierige, individuelle Entscheidung. Theoretisch könnte man zwar daran forschen, den Ansatz verträglicher zu gestalten. Andererseits hatte ja gerade die Radikalität der Methode zu den Erfolgen geführt. Wegen der langen Nachbeobachtungszeit stammt der extreme Behandlungsansatz ohnehin noch aus einer anderen Ära: Die Forscher starteten ihre Studie bereits im Jahr 2000. Inzwischen haben sich die herkömmlichen Therapieoptionen der MS deutlich verbessert. So kann die Behandlung mit einem Fumarsäure-Esther (in Europa seit 2004 zugelassen) die Frequenz der Schübe halbieren. Da die MS-Forschung beständig Fortschritte macht, darf man für die nächsten Jahre noch weitere Innovation erwarten. Die Zukunft der MS-Therapie dürfte daher in der Entwicklung anderer, besser verträglicher Medikamente liegen.