Unbekannte Menschen zu treffen kann herausfordernd, aber auch bereichernd sein. Forscher konnten nun nachweisen, dass ein Molekül, das für die Regulation von Stress im Gehirn verantwortlich ist, auch beeinflusst, ob wir bereit sind, neue soziale Kontakte zu knüpfen.
Wissenschaftler identifizierten in Experimenten mit Mäusen einen Stressmechanismus, der als eine Art „sozialer Schalter“ agiert: Er bringt Mäuse dazu, entweder die Beziehungen mit „Freunden“ und „Bekannten“ zu intensivieren oder sie einzuschränken und stattdessen den Kontakt zu „Fremden“ zu suchen. Menschen verarbeiten Stress im Gehirn mithilfe eines ähnlichen Systems wie Mäuse. Deshalb dürfte der besagte Stressmechanismus auch bei Menschen den Umgang mit sozialen Herausforderungen regulieren. Störungen im Zusammenhang mit diesem Mechanismus könnten für Schwierigkeiten im Sozialverhalten bei Patienten verantwortlich sein, die an Angststörungen, Autismus, Schizophrenie oder ähnlichen Erkrankungen leiden.
Um herauszufinden, wie Mäuse sich im Kontakt mit Artgenossen verhalten, installierten die Wissenschaftler für ihre Studie zwei verschiedene Versuchsaufbauten. Im „sozialen Labyrinth“ konnten Mäuse wählen, ob sie durch einen Maschendraht Kontakt mit vertrauten oder fremden Mäusen aufnehmen, oder ob sie Kontakt generell vermeiden. Im anderen Versuchsaufbau konnten die Mäuse sich in der Gruppe frei bewegen. Ihre Bewegungen wurden dabei durch Videokameras mit einem eigens dafür programmierten Computerprogramm aufgezeichnet und analysiert. Dieser Versuchsaufbau ermöglichte es, die Mäuse der zweiten Gruppe über mehrere Tage bei verschiedenen Arten sozialer Interaktion wie Annäherung, Kontakt, Angriff oder Verfolgung kontinuierlich zu beobachten.
Die Wissenschaftler zeigten, dass ein molekularer Mechanismus im Gehirn der Mäuse, der an der Stressregulation beteiligt ist, auch das Verhalten von Mäusen gegenüber Artgenossen bestimmt. Ein Signale übermittelndes Molekül, das Urocortin-3, und ein Rezeptor auf der Oberfläche von Nervenzellen, an den das Molekül bindet, sind Teil dieses Mechanismus. Beide sind wiederum Teile des Corticotropin-ausschüttenden Faktors beziehungsweise des sogenannten CRF-Systems, das beim Umgang mit Stress eine zentrale Rolle spielt. Molekül und Rezeptor kommen überwiegend in der Gehirnregion der mittleren Amygdala vor, die mit sozialem Verhalten von Mäusen in Zusammenhang gebracht wird.
Mäuse, die hohe Urocortin-Spiegel im Blut aufwiesen, suchten aktiv den Kontakt zu Mäusen, die sie nicht kannten. Dabei ignorierten sie sogar ihre eigene Gruppe. Wenn die Aktivität des Urocortin-3 aber unterbunden wurde, hatten die Mäuse fast nur Sozialkontakte innerhalb ihrer eigenen Gruppe und vermieden Kontakte mit unbekannten Tieren. Oren Forkosh, einer der beteiligten Wissenschaftler fasst zusammen: „In freier Wildbahn leben Mäuse in Gruppen. Ihr Verhalten innerhalb der Gruppe unterscheidet sich von ihrem Verhalten gegenüber Eindringlingen. Deshalb ist es sinnvoll, dass ein und derselbe Mechanismus im Gehirn Einfluss auf zwei verschiedene Arten sozialen Verhaltens nehmen kann. Dieser Mechanismus könnte bei Menschen auftreten, wenn sie zum Beispiel überlegen, bei den Eltern auszuziehen, sich scheiden zu lassen oder den Job beziehungsweise die Wohnung zu wechseln. Originalstudie Ucn3 and CRF-R2 in the medial amygdala regulate complex social dynamics Yair Shemesh et al.; Nature Neuroscience, doi: 10.1038/nn.4346; 2016