Eine einzige Tablette, die speziell auf den Patienten abgestimmt ist. Sie enthält alle benötigten Arzneistoffe und gibt sie in unterschiedlicher Abfolge frei. Ihre Einnahme erfolgt einmal am Tag. Außerdem ist sie einfach und kostengünstig herzustellen – zu schön, um wahr zu sein?
„Für eine lange Zeit waren personalisierte Tabletten ein bloßer Begriff, da die Realisierung zu komplex oder zu teuer war. Diese neue Herstellungsmethode für Tabletten wird das grundlegend verändern“, sagt der Assistenzprofessor und Projektleiter Soh Siow Ling [Paywall] von der National University of Singapore. Er und seine Doktorandin Sun Yajuan haben ein einfaches und kostengünstiges Verfahren entwickelt, mit dem es möglich ist, Tabletten mit mehreren Arzneistoffen herzustellen. Die enthaltenen Wirkstoffe können im menschlichen Körper zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Dosen abgegeben werden.
Nach der Applikation eines Medikaments ist die Freisetzung des Wirkstoffes aus der Darreichungsform der erste und geschwindigkeitsbestimmende Schritt. Allerdings hängt es von der therapeutischen Zielsetzung ab, wann wie viel Arzneistoff die Verabreichungsform freigeben soll. Eine über einen bestimmten Zeitraum konstante Wirkstofffreisetzung ist vor allem dann wichtig, wenn der Arzneistoff nur in einem bestimmten Konzentrationsbereich wirkt. Wird zuviel Wirkstoff freigesetzt, nehmen die unerwünschten Wirkungen zu, bei einer zu geringen Arzneistoffmenge wirkt das Medikament nicht. Manche Wirkstoffe wie beispielsweise Hormone sollen dagegen in regelmäßigen Abständen an den Körper abgegeben werden. Hiermit sollen die biologischen Zyklen nachgeahmt werden. Arzneiformen, die über die Zeit eine immer höhere Wirkstoffmenge freisetzen, sind beispielsweise bei Medikamenten erwünscht, bei denen der Patient eine Toleranz entwickelt. Manche Medikamente erfordern dagegen eine hohe Initialdosis und eine etwas niedrigere Erhaltungsdosis. Beispiel hierfür ist die Therapie der Arthritis. Bei oralen Darreichungsformen können Wirkstofffreisetzung und Aufnahme in den Körper durch spezielle Membrane (z. B. magensaftresistente Kapseln) oder galenische Hilfsstoffe (z. B. Polymere) verändert werden.
Die Idee einer speziell auf den Patienten abgestimmten Pille, produziert mithilfe der 3D-Druck-Technologie, ist nichts Neues. Bereits Mitte 2015 hatte die Food and Drug Administration (FDA) grünes Licht für das Antiepileptikum Spritam® gegeben. Dieses wird über die ZipDose®-Technologie produziert. Dabei trägt ein 3D-Drucker Pulverschichten, die den Wirkstoff enthalten, nacheinander auf und verklebt mit einer wässrigen Lösung jede Lage mit der nächsten. Hierdurch erhält man poröse Tabletten mit patientenindividueller Dosis, die man leicht in Wasser auflösen kann. Um konstante Plasmaspiegel zu erreichen, wären allerdings gerade bei Antiepileptika beispielsweise Retardtabletten sinnvoller. Mithilfe des 3D-Drucks sind noch weitere Freisetzungsprofile realisierbar, wie bereits frühere Studien [Paywall] zeigen konnten. Hierfür sind allerdings komplexe mathematische Modelle und/oder iterative Algorithmen notwendig. Zudem ist die Herstellung der Schicht-bei-Schicht-Struktur komplex und die mechanische Haltbarkeit ist häufig schlecht. Eine zeitgesteuerte Wirkstofffreisetzung kann auch mit Systemen, die nicht oral angewendet werden, erreicht werden. Ein Beispiel hierfür sind Mikrochips. Nachteil dieses Verfahrens ist jedoch, dass die Chips in den menschlichen Körper implantiert werden müssen – eine Prozedur, die nicht für jeden Patienten geeignet ist. Die neue All-in-one-Pille der Wissenschaftler aus Singapur soll nun all diese Probleme lösen: Sie kann einfach sowie kostengünstig produziert werden und ist dabei völlig flexibel. Die Tablette kann nämlich beliebig an die Bedürfnisse des Patienten angepasst werden. Ihre Form, die für die gewünschte Wirkstofffreisetzung benötigt wird, ist intuitiv und das Herstellungsverfahren kostengünstig und einfach.
Das Medikament oder auch die Mischung unterschiedlicher Medikamente befindet sich in der innersten Schicht, deren Form von dem gewünschten Freisetzungsprofil abhängt. Sie besteht aus einem Polymerengemisch, dessen Oberfläche sich bei Kontakt mit einem wässrigen Medium langsam auflöst. Umgeben wird sie von einer weiteren Schicht aus dem gleichen Material, allerdings ohne Arzneistoff. Die Hülle bildet ein undurchlässiges, aber bioabbaubares Material, welches die Tablette auf allen Seiten bis auf einer umgibt. Wird diese Tablette in ein wässriges Medium gelegt, wird das Polymerengemisch (mit und ohne Wirkstoff) allmählich von der Seite her abgebaut, an der sie nicht von dem undurchlässigen Schutzfilm umgeben ist. Wie viel Wirkstoff freigegeben wird, hängt davon ab, wie groß die Fläche der innersten Schicht ist, die gerade an der Oberfläche ist. Die drei Komponenten (von links nach rechts): 1. Innerste Schicht mit Arzneistoff 2. Polymerengemisch mit und ohne Arzneistoff 3. Die ganze Tablette 4. Münze zum Größenvergleich © National University of Singapore Für die Herstellung verwendeten die Wissenschaftler einen gewöhnlichen 3D-Drucker, da dieser kostengünstig und einfach zu benutzen ist. Das digitale Pillenmodell mit dem speziellen Design wird vom Computer erstellt – basierend auf dem gewünschten Freisetzungsprofil, das dann vom 3D-Drucker ausgedruckt wird. Die Vorlage besitzt die gleiche Form, die das Arzneistoff-Polymer-Gemisch später mal haben soll. Laut Veröffentlichung gaben die Wissenschaftler im nächsten Schritt zu der Vorlage ein ungiftiges, flüssiges Polymer. Nachdem es ausgehärtet war, entfernten sie die Vorlage und füllten in die Vertiefung das abbaubare Polymerengemisch mit dem Arzneistoff. Für ihre Studien verwendeten die Wissenschaftler anstelle eines Wirkstoffes einen orangen Farbstoff. Nach dem Aushärten wurde dieses zweite Polymerengemisch mit Farbstoff aus der Gießform genommen, in die undurchlässige Hülle gegeben und der Zwischenraum mit Polymerengemisch ohne Farbstoff aufgefüllt. Für Tabletten, die zwei Medikamente zu unterschiedlichen Zeiten freisetzen sollen, gaben die Wissenschaftler anstelle eines Arzneistoff-Polymer-Gemisches zwei in die Hülle. In diesem Fall waren beide Mixturen zusammen genauso dick wie die der Tablette mit nur einem Wirkstoff. Die Hülle hatten die Wissenschaftler in einem separaten Schritt ausgedruckt. Anschließende Tests bestätigten die erwartete Wirkstofffreisetzung. Die Freisetzungsrate des Farbstoffes konnten die Wissenschaftler beeinflussen, indem sie die Konzentration einzelner Polymere in dem Polymerengemisch veränderten. Die All-in-one-Pille mit unterschiedlichen Designs für unterschiedliche Freisetzungsprofile, © National University of Singapore
Die Wissenschaftler verhandeln bereits mit einem multinationalen Unternehmen. Denn wenn es nach den Forschern geht, soll diese Methode künftig sowohl Kliniken als auch Apotheken zur Verfügung stehen. Ärzte und Apotheker könnten dann die für den Patienten ideale Dosierung unter Berücksichtigung des Alters, Geschlechts oder Nierenfunktion ermitteln und die maßgeschneiderte Tablette direkt vor Ort herstellen. Da die All-in-one-Tablette jedoch nicht komplett aus dem Drucker stammt, sondern verschiedene Herstellungsschritte notwendig sind, für die wiederum Zeit als auch unterschiedliche Gerätschaften benötig werden, bleibt abzuwarten, inwieweit sich das Verfahren durchsetzen kann. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Pharmaunternehmen die speziellen Pillen in großer Menge vorproduzieren. Bis zur Markteinführung der All-in-one-Pille können allerding noch ein paar Jahre vergehen. Derzeit untersuchen Soh Siow Ling und Kollegen, wie sich die Zusammensetzung des Polymerengemisch auf die Wirkstofffreisetzung auswirkt. Ziel ist es, die Tablette noch besser an die Bedürfnisse des einzelnen Menschen anpassen zu können. Bildquelle: Taki Steve, flickr & e-Magine Art, flickr