Auch Ärzte machen Fehler – insbesondere bei der Diagnostik. Allerdings lässt sich diese deutlich verbessern, wenn mehrere unabhängige ärztliche Meinungen zusammengeführt werden. Innovative Ansätze der Telemedizin machen sich bereits das „Mehraugen-Prinzip“ zunutze.
„Irren ist menschlich“, sagten schon die alten Römer – und Ärzte sind da keine Ausnahme. Fehler sind in der Medizin keine Seltenheit. Sie kommen sowohl bei der Diagnostik als auch bei Behandlungsentscheidungen vor. So wird geschätzt, dass in den USA jedes Jahr etwa 200.000 Patienten durch medizinische Fehler sterben, die vermeidbar gewesen wären. Ein großer Teil davon sind diagnostische Fehler. Könnten solche Fehler reduziert und die diagnostische Genauigkeit verbessert werden, wenn sich mehrere Ärzte die Daten anschauen und unabhängig voneinander ihre diagnostische Einschätzung treffen? Und welche Voraussetzungen müssen dafür erfüllt sein? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Forscherteam um Ralf Kurvers vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und dem Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) in Berlin. Dort geht eine Arbeitsgruppe der Frage nach, wie bestimmte Formen der Informationsverarbeitung in der Natur genutzt werden können, um Entscheidungsprozesse bei Menschen – inbesondere in Gruppen – zu verstehen und zu verbessern.
Die Wissenschaftler um Kurvers fanden in zwei Studien heraus, dass sich ärztliche Entscheidungen deutlich verbessern lassen, wenn mehrere Ärzte unabhängig voneinander ein diagnostisches Urteil treffen. In der ersten Studie bewerteten 122 Ärzte Aufnahmen von Hautveränderungen zusammen mit histopathologischen Informationen daraufhin, ob Hautkrebs vorlag oder nicht. Dabei nahmen sie insgesamt über 16.000 Bewertungen vor. Wurden die Urteile von mehreren Experten zusammen genommen, war das diagnostische Ergebnis immer besser als bei der Bewertung durch einen einzelnen Arzt. Bei einem solchen Effekt spricht man auch von „kollektiver Intelligenz“. So erzielte die Gruppe eine höhere Rate an korrekten Hautkrebsdiagnosen und gleichzeitig weniger falsch-positive Ergebnisse. Das diagnostische Ergebnis verbesserte sich dabei umso mehr, je mehr Einzelpersonen zu einer Gruppe zusammengefasst wurden. Die korrekte Einordnung von Hautläsionen in gutartige und bösartige Veränderungen ist nach wie vor eine Herausforderung“, schreiben die Autoren. „Ein Ansatz, der sich kollektive Intelligenz zunutze macht, könnte die Genauigkeit bei der Erkennung von Hautkrebs deutlich verbessern.“
Ähnliches stellten die Forscher in einer zweiten Studie zur Brustkrebsdiagnose fest. Darin werteten 101 Radiologen insgesamt 182 Mammographie-Befunde aus und gaben dabei über 16.800 Bewertungen ab. Auch hier fiel das diagnostische Ergebnis genauer aus, wenn die Urteile mehrere Radiologen zusammengefasst wurden. Dadurch erhöhte sich die Zahl der richtigen Entscheidungen (Wiedereinberufung von Patientinnen, bei denen tatsächlich Brustkrebs vorlag), während die Zahl der falsch-positiven Entscheidungen (Wiedereinberufung von Patientinnen, bei denen kein Brustkrebs vorlag) zurückging. Die Zusammenfassung mehrerer Beurteilungen führte dabei immer zu einem besseren Ergebnis als das Urteil des besten einzelnen Diagnostikers in der Gruppe. Auch eine aktuelle Untersuchung aus den USA kommt zu dem Ergebnis, dass die diagnostischen Urteile einer Gruppe von Ärzten genauer ausfallen als das Urteil eines einzelnen Arztes. Wurden die Beurteilungen von fünf Fachleuten zusammen genommen, war die diagnostische Genauigkeit bereits höher als die des besten Arztes in der Gruppe. Demnach könnten Methoden der kollektiven Intelligenz dazu beitragen, die diagnostiche Genauigkeit bei der Haut- und Brustkrebs-Diagnostik, aber auch in vielen anderen Bereichen zu verbessern, folgern Kurvers und sein Team. „Dies könnten Bereiche sein, in denen bildgebende Verfahren genutzt werden oder in denen diagnostische Entscheidungen mithilfe der subjektiven Interpretation der Befunde getroffen werden“, so die Autoren.
Möglicherweise gelten die Ergebnisse aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. In einer neuen Studie werteten die Wissenschaftler die Daten der beiden früheren Untersuchungen erneut aus und untersuchten, unter welchen Voraussetzungen Gruppenentscheidungen besser sind als die eines Einzelnen. Das wesentliche Ergebnis: Haben die Ärzte eine ähnliche diagnostische Genauigkeit, ist die kombinierte Entscheidung mehrerer Ärzte besser als die des besten Einzelnen in der Gruppe. Andererseits: Ist die Diagnosegenauigkeit der Ärzte sehr unterschiedlich, dann ist das Ergebnis des besten Diagnostikers in der Gruppe besser als die kombinierte Entscheidung. Allerdings stellt sich die Frage, wie man die Diagnosegenauigkeit eines Arztes zuverlässig und ohne großen Zeitaufwand erfassen könnte. „Dazu könnten die früheren diagnostischen Entscheidungen eines Arztes systematisch ausgewertet werden“, sagt Kurvers. „Aber das ist natürlich ein sensibles Thema – und natürlich bräuchten Ärzte, deren diagnostische Genauigkeit unzureichend ist, zunächst einmal Schulungen, um sich in dieser Hinsicht zu verbessern.“ In Zukunft wollen die Forscher nun untersuchen, welche Informationen in der Praxis tatsächlich wichtig sind, um die Diagnosegenauigkeit eines Arztes schnell und zuverlässig einzuschätzen. Auf der anderen Seite bedeuten die Ergebnisse auch: Solange man keine Kenntnis über die diagnostische Genauigkeit hat, ist es sinnvoll ist, die Diagnosen mehrerer Ärzte zu kombinieren. „Denn das führt im Durchschnitt gesehen zu besseren Ergebnissen“, sagt Kurvers. „Das trifft sogar zu, wenn alle Ärzte in der Gruppe sehr gut trainiert sind: Selbst dann führt die Kombination ihrer Urteile zu einem besseren Ergebnis als die Entscheidung eines einzelnen Spezialisten.“
Solche Methoden der kollektiven Intelligenz könnten in Zukunft auch für die Praxis genutzt werden. „Denkbar wären zum Beispiel Online-Datenbanken, in denen medizinische Befunde stets von mehreren Ärzten diagnostisch beurteilt werden“, sagt Kurvers. „Und innerhalb eines Krankenhauses könnten Systeme eingerichtet werden, die es ermöglichen, dass verschiedene Spezialisten einen Fall unabhängig voneinander beurteilen.“ Inwieweit sich dies im medizinischen Alltag umsetzen lässt, hängt auch von der Zeit und den Kosten ab, die dieses zusätzliche Vorgehen beansprucht. Allerdings finden solche Ideen bereits mehr und mehr Eingang in die Praxis. So hat der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in diesem Jahr das telemedizinische Expertenkonsil PädExpert eingeführt. Hier können niedergelassene Kinderärzte bei schwierigen oder chronischen Erkrankungen das Fachwissen eines Spezisten einholen – zum Beispiel eines Kinderkardiologen. Auch die Deutsche Gesellschaft für Telemedizin oder die Telemedizin-Offensive Bayern setzen sich dafür ein, die telemedizinische Versorgung zu fördern – etwa durch das Einholen einer Spezialistenmeinung zu Untersuchungsdaten, die elektronisch übermittelt werden.