Immunzellen sorgen dafür, dass das Gedächtnis funktioniert. Aber nur wenn die Darmflora intakt ist, wie eine neue Studie beweist. Könnte sich die Behandlung des Darms mit Probiotika günstig auf den Verlauf von neurodegenerativen und psychischen Erkrankungen auswirken?
Ohne Darmbakterien werden Mäuse vergesslich. Zu diesem überraschenden Ergebnis kam ein internationales Forscherteam, als es den Nagetieren mehrere Antibiotika verabreichte und so die Bakterien in deren Darm abtötete. Wie die Wissenschaftler um Susanne Wolf in einem Artikel im Fachmagazin Cell Reports berichten, bildeten sich bei den so behandelten Mäusen weniger Nervenzellen im Hippocampus. Offenbar läuft der Informationsaustausch zwischen der Gedächtniszentrale des Gehirns und den Darmbakterien über eine spezielle Sorte von Immunzellen ab: „Bei ausgeschaltetem Mikrobiom war nicht nur die Neurogenese geringer, sondern auch die Anzahl der Ly6Chi-Monozyten ging deutlich zurück“, berichtet Wolf, die am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin forscht. Die Neuroimmunologin interessiert sich schon seit vielen Jahren dafür, auf welche Weise Immunsystem und Gehirn miteinander kommunizieren.
Im Rahmen der aktuellen Studie verwendeten Wolf und ihre Kollegen normale Versuchsmäuse. Diese erhielten über sieben Wochen einen Cocktail aus fünf verschiedenen Antibiotika. Die Behandlung führte dazu, dass die Darmbakterien der Tiere fast vollständig zerstört wurden. Bei einem Teil dieser Versuchsmäuse analysierten die Forscher die Anzahl der neu gebildeten Neuronen im Hippocampus. Sie stellten dabei fest, dass im Vergleich zu unbehandelten Tiere deutlich weniger Neuronen entstanden waren. „Damit die Mäuse sich orientieren und neue Dinge richtig einordnen können, ist es extrem wichtig, dass sich die Zellen im Hippocampus immer wieder erneuern“, erklärt Wolf. Diese Hirnstruktur kann auch bei Patienten mit psychischen oder neurodegenerativen Krankheiten verkleinert sein, wie Studien belegen.
Die verminderte Neurogenese im Hippocampus hatte dramatische Auswirkungen auf das Erinnerungsvermögen der mit Antibiotika behandelten Mäuse: Um ihr Gedächtnis zu testen, setze Wolfs Team sie in einen Kasten, in dem ein Zylinder und ein Würfel aufgestellt waren. Die Tiere liefen neugierig um die Gegenstände herum und beschnüffelten sie ausgiebig. Nach einer Minute wiederholten die Forscher das Experiment, hatten aber den Würfel gegen einen Winkel ausgetauscht. Wie erwartet, interessierten sich die Mäuse hauptsächlich für das neue Objekt. Drei Stunden später mussten die Mäuse nochmals in den Kasten. Die Tiere konnten sich nicht mehr erinnern, dass sie den Zylinder eigentlich schon viel gründlicher als den Winkel untersucht hatten. Sie zeigten deshalb für beide Gegenstände gleichermaßen Interesse. Ihr natürlicher Instinkt, neue Gegenstände zu erkunden, war intakt, aber ihr Gedächtnis hatte sie im Stich gelassen. Unbehandelte Mäuse dagegen inspizierten vor allem den Winkel, da sie sich erinnern konnten, dass sie diesen bislang noch nicht so gut erkundet hatten. Gedächtnistest mit verschiedenen Gegenständen © S. Wolf In einer früheren Studie hatte Wolf bereits Hinweise dafür gefunden, dass das Immunsystem dabei hilft, die Neurogenese aufrechtzuerhalten. Deshalb zählten die Forscher um Wolf verschiedene Sorten von Immunzellen im Gehirn der mit Antibiotika behandelten Mäuse: Zusammen mit der Neurogenese war auch die Zahl der Ly6Chi-Monozyten deutlich zurückgegangen. Wolf geht davon aus, dass diese Immunzellen ein bisher unbekannter Vermittler zwischen Gehirn und den Darmbakterien sein könnte: Als sie und ihre Mitarbeiter den Mäusen nach einer Antibiotika-Behandlung zusätzliche Ly6Chi-Monozyten verabreichten, normalisierte sich die Neubildung von Nervenzellen wieder.
Den Forschern um Wolf gelang es mit zwei weiteren Methoden, die Neurogenese und Gedächtnisleistung der Mäuse wieder anzukurbeln. Sowohl eine Mixtur aus ausgewählten Bakterienstämmen (Probiotika), die die Mäuse zusätzlich zu ihrer Nahrung erhielten, als auch ein mehrtägiges Training im Laufrad führten dazu, dass die negativen Wirkungen der Antibiotika-Therapie wieder rückgängig gemacht wurden und dabei auch die Anzahl der Ly6Chi-Monozyten sich wieder erhöhte. „Die Zahl dieser Immunzellen veränderte sich in unseren Experimenten immer im gleichen Muster wie die Neurogenese – ein Verhalten, das wir bei anderen Immunzellen nicht beobachteten“, sagt Wolf. Probiotika und Lauftraining stimulieren im Hippocampus die Bildung von neuen Nervenzellen (rot). © S. Wolf Das Team um die Forscherin hat auch erste Hinweise auf den Mechanismus gefunden, wie die Ly6Chi-Monozyten mit den Nervenzellen kommunizieren. Anscheinend, so Wolf, schütteten die Monozyten einen löslichen Faktor aus, der die Nervenzellen zur Teilung anregte. Bereits in den vergangenen Jahren konnten andere Forscherteams zeigen, dass die Ly6Chi-Monozyten an vielen Prozessen im zentralen Nervensystem beteiligt sind. Doch ihr Wirken scheint nicht immer vorteilhaft zu sein, bei Infektionen oder nach einem Schlaganfall können sie die Entzündungsreaktion im Gehirn verstärken. „Wie bei vielen anderen Immunzellen kommt es auf die richtige Menge an: Wenn aufgrund einer Behandlung mit Antibiotika zu wenige Ly6Chi-Monozyten vorhanden sind, ist es nicht gut, genauso wenig, wenn wie bei einer Entzündung zu viele dieser Zellen vorhanden sind“, sagt Wolf.
Eine andere Studie, deren Ergebnisse im vergangenen Jahr im Fachmagazin Nature Neuroscience veröffentlicht wurden, scheint den Einfluss der Darmflora auf Immunzellen im Gehirn zu bestätigen: Forscher um Marco Prinz vom Institut für Neuropathologie des Universitätsklinikums Freiburg stellten fest, dass bei Mäusen ohne Darmbakterien die Mikrogliazellen im Gehirn völlig unreif und verkleinert waren. Von diesen Immunzellen ist bekannt, dass sie eine wichtige Rolle bei der Alzheimer-Demenz oder der Multiplen Sklerose spielen. Auch in dieser Studie ließen sich die Effekte umkehren, wenn der Darm der Mäuse wieder mit Bakterien besiedelt wurde. Die Freiburger Forscher kamen auch den Signalstoffen auf die Spur, die das Immunsystem des Hirns stimulieren: Die Bakterien geben kurzkettige Fettsäuren ab, die sie durch die Verdauung von Ballaststoffen herstellen. Wolf möchte herausfinden, ob Probiotika in Kapselform sich günstig auf den Verlauf von psychischen Erkrankungen auswirken könnten. Denn anders als bei Studien mit neu entwickelten Wirkstoffen, so die Neuroimmunologin, gehe das Risiko von unerwünschten Nebenwirkungen bei der Einnahme von Probiotika gegen Null. Bislang ist ein positiver Effekt von Probiotika allerdings nur bei wenigen Krankheiten wie der entzündlichen Darmerkrankung Colitis ulcerosa belegt. Im Rahmen einer Studie will die Berliner Neuroimmunologin nun Patienten mit dieser Darmerkrankung, die bereits Probiotika verschrieben bekommen, zusätzlich auf Depressionen untersuchen und mit Patienten vergleichen, die keine Probiotika einnehmen. Wolf hofft, dass die Studie im nächsten Jahr beginnen kann.
„Die Ergebnisse der aktuellen Studie sind sehr spannend und untermauern, dass das Immunsystem ein wesentlicher Mediator für die Kommunikation zwischen Darmflora und Gehirn sein könnte“, sagt Ulrich Dirnagl, Leiter des Instituts für Experimentelle Neurologie an der Berliner Charité. Doch ist sehr fraglich, ob sich – wie bei allen tierexperimentellen Untersuchungen – die Ergebnisse dieser Mausversuche tatsächlich eins zu eins auf den Menschen übertragen lassen.“ Die im Labor verwendeten Mäuse, so der Neurologe, seien genetisch gleich und würden unter denselben Bedingungen gehalten. Menschen dagegen hätten einen unterschiedlichen genetischen Hintergrund und verschiedene Lebensumstände. „Deshalb bilden Tierexperimente die Situation beim Menschen nur sehr unvollständig ab und die Gefahr ist groß, dass die daraus gewonnenen Erkenntnisse nur Artefakte darstellen“, sagt Dirnagl. Seiner Ansicht nach braucht es noch viel Geduld, um die Zusammenhänge zwischen Darmflora, Immunsystem und Gehirn beim Menschen wirklich zu verstehen. Aus diesem Grund steht Dirnagl einem vorschnellen Einsatz von Probiotika bei psychischen und neurodegenerativen Erkrankungen kritisch gegenüber, da momentan niemand abschätzen kann, ob diese Art von Intervention überhaupt etwas bringt.