Medikamente bekamen ADHS-Patienten bislang nur bei besonders starken Symptomen. Das soll sich ändern: In der neu erschienenen Leitlinie spielt die Pharmakotherapie eine größere Rolle. Die Medikation beginnt nun schon bei moderater ADHS-Ausprägung. Was sagen Experten?
Das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) gehört bei Kindern zu den am häufigsten diagnostizierten neuropsychischen Störungen. Viele Kinder mit ADHS haben noch im Erwachsenenalter Probleme. Teilweise diagnostizieren Ärzte die Erkrankung auch erst in späteren Jahren. Die Ursachen von ADHS sind bis heute unklar. Jetzt gibt es eine neue Leitlinie. Sie heißt Leitlinie zur Diagnostik und Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und wurde von 30 Fachgesellschaften unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) veröffentlicht. Das diagnostische und therapeutische Ziel sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen. Die neue Leitlinie erreicht erstmals den höchsten Entwicklungsgrad, nämlich S3. In diesem Grad schreibt die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) ein umfangreiches Prozedere bei der Literaturrecherche, der Auswertung und bei der Konsensbildung vor. Gleichzeitig führt die Einbindung aller direkt oder indirekt beteiligten Akteure zum größtmöglichen Konsens unterschiedlicher Fachbereiche.
Als typische Merkmale nennen die Leitlinienautoren Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität beziehungsweise Hyperaktivität – und zwar situationsübergreifend, beispielsweise in der Schule und in der Freizeit. Wichtig sei auch der Leidensdruck, heißt es weiter. Dazu gehören schlechte Leistungen in der Schule, Probleme im Beruf oder die soziale Isolation. Bei solchen Auffälligkeiten fordern die Autoren eine umfassende Diagnostik durch Experten, um ADHS von anderen Störungsbildern wie Depressionen oder Angststörungen abzugrenzen. Das kann bei jungen Patienten ein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie oder ein speziell ausgebildeter Kinderarzt sein.
Als einer der wenigen kritischen Stimmen warnt Professor Dr. Silvia Schneider: „ADHS wird häufig überdiagnostiziert – auch von Experten“. Sie ist Forscherin an der Arbeitseinheit Klinische Kinder- und Jugendpsychologie der Ruhr-Universität Bochum. Zusammen mit Kollegen hat Schneider im Jahr 2012 eine viel beachtete Studie veröffentlicht. Damals erhielten 473 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten beziehungsweise Kinderpsychiater aus Deutschland je eine von vier unterschiedlichen Fallgeschichten weiblicher oder männlicher Patienten. Sie sollten eine Diagnose und eine Therapie vorschlagen. Nur jeder vierte Fall enthielt starke Anhaltspunkte für ADHS. Bei der Fallgeschichte 1 (ADHS) stellten 78,9% tatsächlich eine ADHS-Diagnose und weitere 4,4% eine ADHS-Verdachtsdiagnose. Bei den Fallgeschichten 2 bis 4 (kein ADHS) waren sich 16,7% sicher, das Krankheitsbild vor sich zu haben, und 5,8% äußerten zumindest den Verdacht. Studienteilnehmer diagnostizierten bei den Fällen 2 bis 4 doppelt so oft falsch ADHS, falls der Bericht einen Jungennamen enthielt. „Viele Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiater gehen dabei offensichtlich eher heuristisch vor und entscheiden nach prototypischen Symptomen“, kommentierten Schneider et al. in einer Pressemeldung. „Der Prototyp ist männlich und zeigt Symptome von motorischer Unruhe, mangelnder Konzentration oder Impulsivität.“ Außerdem diagnostizieren männliche Therapeuten signifikant häufiger ADHS als weibliche. „Bei Mädchen mit einer ADHS äußert sich die Störung weniger durch Hyperaktivität und Aggressionen, sondern mehr durch innere Unruhe, andauerndes Reden und durch starke emotionale Schwankungen“, bestätigt Dr. Klaus Skrodzki vom Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte. „Vergesslichkeit, mangelnde Selbstorganisation, Tagträumerei, langsames Arbeitstempo, niedriges Selbstbewusstsein, Ängstlichkeit und Mutlosigkeit fallen weniger ins Auge als die typischen Verhaltensstörungen bei Jungen mit einer ADHS.“ Ob eine neue Leitlinie altbekannte Probleme lösen wird, ist fraglich. Schneiders Beispielfälle orientierten sich schon damals an Leitlinien. Nur haben sich zu wenige Therapeuten mit den Empfehlungen befasst.
Im Unterschied zu früheren Empfehlungen rät die aktuelle Leitlinie dazu, schon bei mittelschweren Krankheitsformen Pharmaka einzusetzen. Zu den wichtigsten Substanzen gehören Methylphenidat, Atomoxetin, Lisdexamphetamin und Guanfacin. Bislang galt die Empfehlung nur für schwere Ausprägungen. Bei geringeren Beschwerden standen Verhaltenstherapien im Mittelpunkt. Laut Professor Dr. Dr. Tobias Banaschewski vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und von der DGKJP werde sich durch die Empfehlung aber wenig ändern. Das Vorgehen sei bereits „gängige Praxis“. Banaschewski weiter: „Die Auswertung der aktuellen Datenlage hat gezeigt, dass die Wirksamkeit der Verhaltenstherapie auf die Kernsymptome der ADHS nicht sicher belegt ist, in der Praxis die Symptomatik häufig nicht ausreichend gebessert wird.“ Ralph Schliewenz vom Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) ergänzt: „Ich würde es quasi als Kunstfehler ansehen, ADHS-Patienten Medikamente vorzuenthalten.“ Allerdings dürfe es „keine Medikation ohne begleitende Psychotherapie“ geben. Auch ein Training von Betroffenen sowie deren Eltern wird empfohlen. Gleichzeitig warnt Schliewenz vor vermeintlichen Zauberpillen gegen ADHS: „Medikamente wirken immer nur so lange, wie man sie nimmt. Sie allein können die mit ADHS einhergehenden Probleme nicht beseitigen.“ Selbst kritisch eingestellte Experten wie Professor Dr. Manfred Döpfner, Kinderpsychologe an der Uni Köln, sehen einen Mehrwert: „Die Kernsymptome der ADHS, die Hibbeligkeit und Unkonzentriertheit, sind ohne Medikamente schwer in den Griff zu bekommen“, erklärt er gegenüber der Süddeutschen Zeitung.
Schneider zweifelt mit Hinweis auf eine Analyse der Cochrane Collaboration am Mehrwert von Pharmaka. Pablo Luis Lopez zufolge verringerten sich ADHS-Kernsymptome bei erwachsenen Patienten mit kognitiver Verhaltenstherapie versus Verhaltenstherapie plus Pharmakotherapie ähnlich stark. Zu sekundären Störungen, etwa Angst oder Depression, gibt es keine Angaben. Außerdem hat Ole Jakob Storebø von der Cochrane Collaboration Ergebnisse eine Analyse zu unerwünschten Auswirkungen veröffentlicht. „Methylphenidat könnte mit einigen schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen verbunden sein“, schreibt Storebø. Dazu zählen psychische Störungen und Arrhytmien. Der Experte fand zusätzlich „eine große Anzahl von anderen, nicht-schwerwiegenden schädlichen Auswirkungen“, wie Schlafstörungen, Kopf- und Bauchschmerzen. Gleichzeitig weist er auf die „sehr niedrige Qualität und Evidenz“ vieler Studien hin. Er fordert, Subgruppen zu identifizieren, die besonders stark von Methlyphenidat profitieren oder denen der Arzneistoff auffällig stark schadet. In beiden Fällen sind viele der eingeschlossenen Studien methodisch schlecht, so dass die Aussagen nur geringe Evidenz haben. Ganz vom Tisch wischen lassen sich die Ergebnisse dennoch nicht.