Je mehr medizinisches Vorwissen vorhanden ist, desto leichter fällt den Studenten das Pauken. Welche Regionen des Gehirns diese positive Wirkung vermitteln, konnte jetzt ein Gedächtnisexperiment mit Examenskandidaten zeigen.
Was passiert im Gehirn, wenn wir uns Kenntnisse aneignen, die auf Vorwissen aufbauen? 100 Tage lang bereiteten sich Medizinstudenten mithilfe einer webbasierten Lernplattform auf ihr Staatsexamen vor. Um zu sehen, wie sich das „Pauken“ auf das Gehirn auswirkt, wurde die Gehirnaktivität der Probanden während dieser Zeit zweimal im Magnetresonanztomografen (MRT) gemessen – drei Monate vor dem Examen sowie kurz danach. Im MRT sollten sich die Studenten Gesichter von Personen einprägen, und zwar zusammen mit medizinischen Diagnosen, die diese erhalten hatten. Zum Vergleich zu dieser Aufgabe sollten sie sich außerdem andere Gesichter zusammen mit deren Vornamen merken. Im Anschluss wurden ihnen die bekannten Gesichter erneut gezeigt und die zugehörige Diagnose oder Vorname abgefragt.
Die Ergebnisse belegen, dass sich die Medizinstudenten nach der intensiven Lernphase die zu den Gesichtern passenden Diagnosen besser merken konnten als die Vornamen. Sie konnten dies auch besser als eine Vergleichsgruppe von Medizinstudenten, die sich noch nicht auf das Examen vorbereitet hatten. Das durch intensives Lernen erworbene medizinische Wissen führte also zu einer verbesserten Gedächtnisleistung für medizinverwandte Information, nämlich für die Verknüpfung von Gesicht und Diagnose. Die MRT-Bilder zeigten, dass die Gehirnaktivität des Hippocampus bei der Abfrage der Gesichts-Diagnose-Paare stärker mit der Gehirnaktivität semantischer Areale der Großhirnrinde, insbesondere des linken Gyrus temporalis medius, zusammenhing als bei der Abfrage der Gesichts-Vornamens-Paare.
Während der Hippocampus für das Einprägen von Informationen zuständig ist, sind die semantischen Prozessareale für deren Verständnis maßgeblich. Bei den Studenten, die besonders viel dazugelernt hatten, nahm die für das erfolgreiche Einprägen erforderliche Hippocampusaktivierung sogar ab; auf Probanden, die weniger gelernt hatten, traf dies weniger zu. „Die Ergebnisse legen nahe, dass die Zunahme von aufgabenrelevantem Wissen die Bildung neuer Assoziationen im Hippocampus erleichtert und dass dies mit einer verstärkten Kommunikation zwischen dem Hippocampus und semantischen Prozessarealen einhergeht“, sagt Garvin Brod, Erstautor der Studie vom Forschungsbereich Entwicklungspsychologie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Die Studienergebnisse erweiterten die Kenntnisse über die neuronalen Grundlagen der Wirkung des Vorwissens auf Lernen und Gedächtnis. Die von den 31 Examenskandidaten genutzte webbasierte Lernplattform stellte Examensfragen aus den vergangenen Jahren. Für deren korrekte Beantwortung mussten sich die Studenten medizinische Informationen einprägen, so zum Beispiel Krankheitssymptome und -ursachen.
Am Ende der 100 Tage verzeichneten die Wissenschaftler einen klaren Wissenszuwachs bei den Medizinstudenten: Beantworteten diese am Anfang des Messzeitraums 69 Prozent der Fragen richtig, so waren es in der letzten Woche der Examensvorbereitung 83 Prozent der Fragen. Außerdem konnte der Erfolg der Studenten beim Beantworten der Fragen auf der Lernplattform das tatsächliche Examensergebnis sehr gut voraussagen. „Unsere Studie konnte Wissensveränderungen durch den Einsatz moderner Lernsoftware erfassen und diese auf Veränderungen der Hirnfunktion beziehen“, so die Projektleiterin Yee Lee Shing, die mittlerweile an der University of Stirling arbeitet und assoziierte Wissenschaftlerin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung ist. Die zukünftige Lern- und Gedächtnisforschung sollte verstärkt die Eigenschaften von Wissensbeständen in den Blick nehmen, die in Schule, Ausbildung und am Arbeitsplatz erworben werden, und untersuchen, wie sie mit individuellen Unterschieden im Lebensverlauf zusammenhängen. Originalpublikation: Knowledge Acquisition during Exam Preparation Improves Memory and Modulates Memory Formation Garvin Brod et al.; The Journal of Neuroscience, doi: 10.1523/jneurosci.0045-16.2016; 2016