In vielen Ländern ist das Schmerzmittel Metamizol verboten. Deutschlands Ärzte verordnen es trotz bekannter Risiken in großem Stil. Nun startet ein Risikobewertungsverfahren. Wird Metamizol bald auch bei uns vom Markt genommen?
Das Analgetikum und Antipyretikum Metamizol ist in vielen Ländern nicht zugelassen, darunter Frankreich, Großbritannien und die USA. In Deutschland sowie in Spanien ist das Medikament erlaubt. Dort sorgten mehrere Todesfälle britischer Patienten für Schlagzeilen. In Deutschland starb kürzlich ein 33-jähriger Mann aufgrund der Nebenwirkung. „Die Diagnose wurde erst spät gestellt und damit die Therapie verzögert eingeleitet“, berichtet die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ). Neben Anaphylaxien können Fieber, Halsschmerzen oder entzündliche Schleimhautveränderungen bei Metamizol Anzeichen einer lebensbedrohlichen Nebenwirkung sein. Ärzte denken nicht zwangsläufig an eine allergische Agranulozytose, sprich eine Verringerung der Zahl an Granulozyten im Blut. Das Immunsystem wird dadurch extrem geschwächt, schwere Infekte sind die Folge. In Anbetracht der Risiken stellt sich die Frage: Kann man in der Medizin auf Metamizol verzichten?
Die AkdÄ spricht von „seltenen unerwünschten Arzneimittelwirkungen“, genaue Zahlen gibt es nicht. Als Größenordnung ist ein Agranulozytose-Fall auf 20.000 bis 30.000 Metamizol-Anwender recht wahrscheinlich. Etwa jeder vierte Patient mit Agranulozytose stirbt. „Da es sich unabhängig von der exakten Häufigkeit um eine sehr seltene unerwünschte Arzneimittelwirkung handelt, sieht die überwiegende Mehrheit der Ärztinnen und Ärzte auch bei langjähriger Verschreibung von Metamizol keinen Fall von Agranulozytose“, kommentier die AkdÄ in einer Mitteilung. „Dies trägt möglicherweise zur Unterschätzung des Risikos und zur Verordnung außerhalb der zugelassenen Indikation bei.“ Laut Arzneiverordnungsreport 2017 lag die zuletzt abgegebene Menge in Deutschland bei 203,7 Millionen definierten Tagesdosen (DDD) beziehungsweise 23 Millionen Verordnungen. Im letzten Jahrzehnt stieg die Menge nahezu linear an. Sinkende Verordnungszahlen bei ASS oder Paracetamol (siehe unten) dürfen wegen deren OTC-Status nicht überinterpretiert werden. Welche Mengen Patienten tatsächlich in Apotheken erwerben, geht aus der Grafik nicht hervor. Tatsächlich gehört Metamizol zu den beliebtesten Analgetika auf Stufe 1 der WHO-Stufenschemas zur Schmerztherapie. Grafik © Arzneiverordnungsreport 2017 „Es ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die Gefahr der Sensibilisierung und Auslösung von Agranulozytosen und Schockreaktionen (nach i.v.-Gabe) zu einerEinschränkung der Indikation von Metamizol führen muss“, schreibt Professor Dr. Ulrich Schwabe im Arzneiverordnungsreport. Er kritisiert, durch den Einsatz bei Bagatellerkrankungen wie Fieber oder leichten Schmerzen sei die Sensibilisierungsrate „kritiklos gesteigert“ worden.
Dass der Wirkstoff trotz seiner Nachteile weiter verschrieben wird, hat mehrere Gründe. DocCheck sprach mit zwei Experten. Professor Dr. Hans-Raimund Casser ist ärztlicher Direktor des DRK Schmerz-Zentrums Mainz und Vizepräsident der Interdisziplinären Gesellschaft für orthopädische/unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie (IGOST), einer Sektion der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. „Metamizol hat infolge der zunehmenden Einschränkung bei der Verschreibung von NSAR sowie der zurückhaltenden Einstellung gegen Opioiden beim Nicht-Tumorschmerz erheblich an Bedeutung gewonnen“, erklärt Casser. „Zugelassen ist der Wirkstoff für die Behandlung akuter und chronischer starker Schmerzen, wenn andere Analgetika, wie insbesondere NSAR, aufgrund von nephrologischen, gastrointestinalen oder kardialen Nebenwirkungen kontraindiziert sind.“ Speziell für geriatrische Patienten gebe es Empfehlungen in der PRISCUS- sowie auch der FORTA-Liste. Casser rät, Metamizol nur im Rahmen der Zulassung einzusetzen, auf unerwünschte Reaktionen zu achten und ggf. ein Blutbild zu machen. Auch Dr. Thomas Cegla, Chefarzt der Schmerzklinik Wuppertal und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, verteufelt das Analgetikum nicht: „Metamizol wird im Bereich der Akutschmerztherapie bei der Anästhesie eingesetzt.“ Hier handele es sich um ein sehr wirksames Medikament, das auch postoperativ zur Anwendung komme. Bei chronischen Schmerzzuständen habe es sich ebenfalls bewährt. „Bei Patienten mit Schmerzspitzen können wir so recht gut reagieren“, ergänzt Cegla. Zur Frage, warum Metamizol immer häufiger verordnet wird, sagt der Experte: „In der Stufe 1 des WHO-Stufenschemas sind viele Substanzen für die Dauertherapie eher schädlich.“ Außerdem seien mehrere Coxibe vom Markt verschwunden, u.a. Rofecoxib sowie Lumiracoxib. „Diese Lücke wurde wahrscheinlich durch Metamizol geschlossen.“ Zeitgleich gingen Opiat-Verordnungen nach oben. Cegla: „Es ist wichtig, dass das Bewusstsein für Nebenwirkungen da ist. Aber manchmal hat man das Gefühl, es wird in der Diskussion etwas übertrieben.“
Mehrere wissenschaftliche oder sozialrechtliche Argumente sprechen für Metamizol. Die S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis (Harnsteinleiden) nennt Metamizol neben Indometacin als Mittel der Wahl. Beide Pharmaka wirken nicht nur analgetisch, sondern senken den erhöhten intraluminalen Druck als Auslöser von Beschwerden. Bei Metamizol kommen spasmolytische Effekte mit hinzu. Zudem treten Magengeschwüre oder gastrointestinale Blutungen deutlich seltener auf. NSARs hingegen können bei neprhologisch vorbelasteten Patienten zu Nierenversagen führen. Opioide beeinflussen nur die Schmerzweiterleitung, ohne ursächlich zu wirken. Im Unterschied zu NSARs wirkt Metamizol nicht wie ein klassischer Inhibitor der Cyclooxygenasen COX-1 und COX-2. Diese katalysieren die Bildung von Prostaglandinen und spielen eine Rolle als Schmerzmediator, bei Fieber und Entzündungsprozessen. Der genaue Wirkmechanismus von Metamizol ist nicht bekannt. Mehr als 20 Abbauprodukte von Metamizol sind von Bedeutung, allen voran 4-Methylaminoantipyrin (MAA) 4-Aminoantipyrin (AA) und 4-Formylaminoantipyrin (FAA). Sie wirken vermutlich als Hemmstoffe der Cyclooxygenase 3 (COX-3) und verringern dadurch die Prostaglandin-Synthese im Rückenmark. Eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigte, dass Metamizol außerdem spezielle Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren) Ionenkanäle blockiert. Ärzte vermeiden NSARs bzw. COX-2-Hemmer auch aus kardialen Gründen. Dahinter steckt vor allem eine Fall-Kontroll-Studie mit 92.163 Patienten, die aufgrund einer Herzinsuffizient behandelt werden mussten. Hinzu kamen 8,2 Millionen gesunde Probanden. Das Risiko stationärer Aufenthalte aufgrundeiner Herzinsuffizienz stieg für sieben NSARs (Diclofenac, Ibuprofen, Indomethacin, Ketorolac, Naproxen, Nimesulid und Piroxicam) sowie zwei COX-2-Hemmer (Etoricoxib und Rofecoxib) im Mittel um 19 Prozent. Einer älteren Metaanalyse zufolge treten je nach Substanz Schlaganfälle und Herzinfarkte um den Faktor zwei bis vier häufiger auf. Jüngeren Menschen ohne Vorerkrankungen droht keine Gefahr. Aber gerade ältere, multimorbide Patienten mit langjähriger Analgetika-Einnahme müssen mit unerwünschten Effekten rechnen. Aber auch unter rechtlichem Blickwinkel hat der Wirkstoff Vorteile. Für Metamizol reicht ein normales Rezept aus, während Opioide auf BtM-Rezept verordnet werden. Laut der Anlage III der Arzneimittel-Richtlinie gibt es keine Versorgungsausschlüsse. Apothekenpflichtige, nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel sind grundsätzlich von der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV ausgeschlossen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Und nicht zuletzt befinden sich zahlreiche Metamizol-Generika inklusive Rabattverträgen auf dem Markt.
Auf dieses Potpourri an Chancen und Risiken reagieren Gesundheitssysteme ganz unterschiedlich. Deutschlands Behörden sahen sich bereits vor Jahrzenten mit der Problematik konfrontiert. Im Jahr 1986 hat die Arzneimittelkommission Metamizol der Verschreibungspflicht unterstellt, und in 1987 widerrief das damalige Bundesgesundheitsamt alle Zulassungen für Kombinationspräparate, aber nicht für Monopräparate. Die USA, Australien, Japan und viele EU-Nationen haben Metamizol vom Markt genommen. Manche Länder ermöglichen es Ärzten, Präparate mit oder ohne Einschränkung nach wie vor zu verschreiben. Dem gegenüber hat Metamizol in vielen Ländern Afrikas, in Bulgarien, Polen, in der Türkei, in Russland, aber auch in Mexiko, in Brasilien und in Israel einen OTC-Status. Hinzu kommt, dass sich Dosierungen, Indikationen oder Warnhinweise stark unterscheiden. Bei Apothekern gilt Metamizol als Beispiel schlechter Absprachen zwischen Zulassungsbehörden unterschiedlicher Länder (rot: keine Zulassung; hellblau: OTC-Status; dunkelblau: Rx-Status mit geringen Einschränkungen hinichtlich der Indikation; orange: Rx-Status mit starken Einschränkungen; grau: keine Daten). Grafik: Fuse809 © Wikipedia Um zumindest in der EU für mehr Klarheit zu sorgen, hat die Europäische Arzneimittelagentur EMA ein Risikobewertungsverfahren gestartet. Der Antrag kam aus Polen. Im nächsten Schritt sammelt der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) alle verfügbaren Daten. Dann erarbeiten Experten eine Empfehlung. Vielleicht wird Metamizol EU-weit vom Markt verschwinden, vielleicht legen Experten auch nur strengere Indikationen fest. Was sollten Ärzte bis zum Abschluss des Verfahrens tun?
Professor Dr. Jörg Jerosch von der Interdisziplinären Gesellschaft für orthopädische / unfallchirurgische und allgemeine Schmerztherapie (IGOST) hat in einem Übersichtsbeitrag Tipps für Kollegen zusammengestellt:
Damit sind Ärzte auf der sicheren Seite, bis die EMA ihre abschließende Bewertung veröffentlicht hat.