Wer Facharzt werden will, muss nicht nur das Abfertigen von Patienten lernen, sondern viele spezielle Untersuchungsmethoden. Doch Assistenzärzte sind im Stationsalltag eingespannt. Beim Nachweis von Kenntnissen wird daher systematisch getäuscht.
In einem kleinen Krankenhaus begann Anton Clausner* seine Weiterbildung zum Facharzt für Allgemeinmedizin. Da wurde ihm ziemlich schnell klar: Vieles von dem, was zur Facharztausbildung gehörte, würde im Alltag nicht zu schaffen sein. Den ganzen Tag über musste er auf der Station arbeiten. Für die 400 Ultraschalluntersuchungen des unteren Abdomens, die seine Landesärztekammer in ihren Richtlinien fordert, blieb ganz einfach keine Zeit. Ohnehin hätte er Anleitung benötigt: „Es gab aber auch niemanden, der es mir beigebracht hätte‟, sagt Clausner. Für 400 Euro buchte er einen einwöchigen Kurs, in dem die Grundlagen vermittelt wurden. „Immerhin wurde ich dafür freigestellt. Das ist anderswo nicht einmal üblich‟, sagt Clausner. Anstelle von Patienten untersuchten sich die Assistenzärzte im Kurs gegenseitig: „Kennen gelernt habe ich also vor allem Normalbefunde‟, sagt er. Die Ultraschalluntersuchung echter Patienten versuchte er sich danach notdürftig selbst beizubringen, was schwierig war: Denn nach 18 Uhr, wenn alles, was so anfiel, erledigt war, konnte er dafür keine Patienten mehr einbestellen. „Und irgendwann will man ja auch mal nach Hause.‟
Angehende Fachärzte müssen in Logbüchern dokumentieren, dass sie eine bestimmte Anzahl von Untersuchungen durchgeführt haben. Diese gelten als Fähigkeitsnachweis. Wer 400 oder 500 Mal ein Abdomen per Ultraschall untersucht hat, weiß wie es geht, so die Idee dahinter. Die Zahlen müssen vom Weiterbildungsbefugten abgezeichnet werden. Doch häufig werden falsche Werte eingetragen und trotzdem vom Chefarzt bestätigt: Zum einen, weil der selbst weiß, dass vieles gar nicht zu schaffen ist. Zum anderen, weil er die Assistenzärzte lieber im Stationsalltag einsetzt, als sie für das Erlernen spezieller Untersuchungsmethoden freizustellen. Auch Clausner wurde von seinen Kollegen empfohlen, einfach die benötigten Richtzahlen ins Logbuch einzutragen und gegenzeichnen zu lassen. Selbst der Chefarzt hatte gesagt: „Sie wissen ja, was sie brauchen.‟ „Mir war das etwas unangenehm‟, gesteht der junge Arzt. Er entschied sich, mehr Stunden einzutragen, als er absolviert hatte, aber nicht zu übertreiben – in der Hoffnung sie später nachholen zu können. Er weiß, der Chefarzt hätte auch mehr abgezeichnet, obwohl eigentlich klar war, dass die Zahlen unrealistisch waren. „Das läuft im stillschweigenden Einverständnis und ist ganz einfach die gängige Praxis‟, sagt Clausner. Assistenzärztin Meike Sandmann* hatte ähnliche Probleme, ihren Richtzahlsoll zu erfüllen. Für ihre Facharztausbildung arbeitete sie über ein Jahr lang auf einer geriatrischen Station, deren Chefarzt die Befugnis zur Weiterbildung in Neurologie hatte. Für den Facharzt in Neurologie hätte sie neurophysiologische Untersuchungs- und Behandlungsmethoden lernen und hundertfach durchführen müssen. Doch der Stationsalltag sah anderes vor. Zwischen Besprechungen und Visite nahm Sandmann Patienten auf, dazu kamen Angehörigengespräche und Notfälle. Den Rest des Tages war sie damit beschäftigt, Entlassungsbriefe fertig zu machen. „Wäre die Arbeit liegen geblieben, hätte es am nächsten Tag Stress mit dem Pflegepersonal gegeben,‟ sagt Sandmann. Duplexsonographien der Carotiden oder EEG- Untersuchungen – die hätte sie gerne gemacht. Doch es fehlte einfach die Zeit. Ein Chefarzt empfahl ihr, sich erst einmal in der Freizeit Hintergrundwissen anzulesen, danach „könne sie dann mal der MTA über die Schulter schauen.‟ Doch als alleinerziehende Mutter musste Sandmann neben dem Vollzeitjob ein Kind versorgen, und konnte sich nicht auch noch am Feierabend weiterbilden.
Mehrfach suchte sie das Gespräch mit dem Chef und arbeitete gemeinsam mit den anderen Assistenzärzten ein Rotationssystem aus, wonach jeder wenigstens ½ Stunde wöchentlich im EEG hätte verbringen können. Der Chef ging auf diesen Vorschlag aber nicht ein. Es wurde Sandmann sogar zum Verhängnis, dass sie so oft auf die fehlenden Untersuchungen hingewiesen hatte. Denn am Ende trug ihr Vorgesetzter die benötigten Stunden tatsächlich auch nicht in das Logbuch ein. „Wahrscheinlich war ich zu ehrlich‟, sagt sie heute. „Ich hätte dreister sein sollen und einfach sagen, ich hätte das alles gemacht. Die anderen machen das schließlich auch.‟ Offiziell haben Fachärzte alle Erfahrungen gesammelt, die ihnen das Logbuch bescheinigt – in der Realität mangelt es aber oft bei bestimmten Untersuchungsmethoden an Praxiserfahrung. Und junge Ärzte werden sogar zum Schummeln genötigt, um den Facharzt abschließen zu können. Zum Wohl der Patienten kann das nicht erwünscht sein. Wie kann es sein, dass niemand etwas gegen ein so weit verbreitetes Problem unternimmt?
Bei der Ärztekammer Nordrhein weicht man auf solche Fragen hin aus. In der letzten Evaluation der Ärztekammer Nordrhein habe sich gezeigt, „dass die Mehrzahl der Fachärzte mit ihrer Weiterbildung zufrieden war‟, sagt Susanne Schwalen, die geschäftsführende Ärztin. Wenn „die Qualität der Weiterbildung oder deren Organisation‟ Anlass für Beschwerden gebe, stehe die Ärztekammer als Mediator zur Verfügung. Assistenzärzten empfiehlt sie, sich zusammenzutun. Nicht zuletzt seien diese als erwachsene Menschen auch selbst in der Verantwortung, eine gute Weiterbildung einzufordern – notfalls solle man eben woanders hin wechseln. Doch durch ein Engagement der Assistenzärzte allein lässt sich das Grundproblem nicht lösen. Im Gegenteil, wie das Beispiel von Sandmann beweist: Wer zu laut auf die fehlende Richtzahlen hinweist, ist gegenüber denen im Nachteil, die sich stillschweigend fiktive Werte abzeichnen lassen. „Man ist eben abhängig beschäftigt und auf den Goodwill der Chefs angewiesen‟, sagt Anton Clausner. Keiner will sich ernsthaft mit dem Vorgesetzten anlegen – erst recht nicht, wenn der ohnehin alles im Logbuch abzeichnet. „Und man will natürlich auch nicht dauernd wechseln‟, sagt Clausner, ohnehin bestünden solche Probleme fast überall. Im Vorstellungsgespräch würde vieles zugesichert, was dann einfach nicht stattfände. Manche Weiterbildungsstätten weisen aber auch vorab darauf hin, dass Ärzte zum Lernen nicht freigestellt werden. Im „Konzept für die Weiterbildung im Gebiet Innere Medizin‟ des Hamburger Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf heißt es zum Beispiel, eine „eindeutige Trennung von Weiterbildung und Dienstzeit‟ sei „zurzeit nicht möglich‟. Die Weiterbildung finde „vor allem als implizite Weiterbildung durch Anleitung während der Ausführung von Dienstaufgaben statt.‟ Für die Klinikchefs hat Anton Clausner aber wegen der äußeren Zwänge sogar Verständnis. Die Fallpauschalen-Abrechnung der Patienten führe dazu, dass Stationen nur äußerst dünn besetzt sind. Vielerorts werde der Betrieb nur durch die Assistenzärzte aufrechterhalten. Da sei es nicht möglich, diese freizustellen, damit sie ihr Logbuch mit Richtzahlen füllen können.
Andererseits berge die Praxis ein Risiko für die Patienten: So weiß Clausner von Kollegen, die den Facharzt für Innere Medizin auf kardiologischen Stationen erwerben. Die dafür geforderten Gastroskopien würden einfach abgezeichnet – solange die Assistenzärzte offiziell Kardiologen werden wollen. Später gelten sie dennoch als Facharzt für Innere Medizin und können sich auf entsprechende Stellen bewerben. Andere Assistenzärzte berichten, dass sie plötzlich Untersuchungen durchführen sollten, die sie nicht beherrschten: Weil das Logbuch ihnen Praxiserfahrung bestätigte, die sie aber nicht hatten. Die Befugnis zur Weiterbildung sollten daher nur Chefs erhalten, denen es ernst damit ist, den jungen Kollegen das Nötige beizubringen, findet Clausner. Dabei könne aber von den Logbüchern abgerückt werden. Vorstellbar wären regelmäßige Prüfungen, in denen ein Assistenzarzt zeigen müsse, dass er zum Beispiel ein EKG erstellen oder eine Ultraschalluntersuchung vornehmen und auswerten kann. „Wie schnell jemand eine Technik erlernt, ist ohnehin individuell. Die Richtzahlen könnte man dann getrost vergessen – die sind doch ohnehin Schwachsinn.‟ *Namen von der Redaktion geändert