Geschlossene Stationen in der Psychiatrie sollen Patienten schützen. Doch Suizidversuche und Fluchten sind bei geschlossenen Stationen häufiger als bei Kliniken mit „offenen Türen“. Eine neue Studie stellt klar: Zwangsmaßnahmen gefährden eher die Therapie.
Geschlossene Stationen in der Psychiatrie sind bei Ärzten und Patienten umstritten. Patienten werden dort untergebracht, wenn sie selbst- oder fremdgefährdend sind – zum Beispiel bei akuter Suizidgefahr oder impulsivem aggressivem Verhalten. Die Aufnahme kann per Gesetz oder richterlichem Beschluss erfolgen, Patienten können sich aber auch freiwillig auf eine geschlossene Station begeben. Solche Risikopatienten stellen eine Herausforderung für psychiatrische Einrichtungen dar. Die Begründung für geschlossene Stationen lautet dabei: Nur wenn die Patienten von selbst- oder fremdgefährdendem Verhalten abgehalten werden, können sie ausreichend geschützt werden und eine angemessene Therapie erhalten.
Christian Huber ist leitender Arzt am Zentrum für psychotische Erkrankungen der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel © Christian Huber Nun hat eine neue Studie jedoch gezeigt, das Risiko, dass Patienten Suizidversuche oder Suizid begehen oder aus der Behandlung fliehen, ist in offenen psychiatrischen Kliniken nicht größer als in psychiatrischen Kliniken mit geschlossenen Stationen. Das Forscherteam um Christian Huber und Undine Lang von der Universität Basel und der Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel wertete insgesamt rund 350.000 Patientenfälle aus der Zeit von 1998 bis 2012 aus – also in einem Zeitraum von 15 Jahren. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die Forscher jetzt in der Zeitschrift „The Lancet Psychiatry“. Die Daten stammten aus 21 deutschen Kliniken, von denen fünf eine Praxis der offenen Türen verfolgten, also ganz ohne geschlossene Stationen auskamen. 16 Kliniken besaßen zusätzlich zu offenen Stationen auch zeitweise oder dauerhaft geschlossene Stationen. Die Diagnosen der Patienten umfassten hirnorganische Störungen wie beispielsweise Demenz, Substanzmissbrauch, Erkrankungen aus dem schizophrenen Spektrum, affektive Störungen und Persönlichkeitsstörungen.Dabei waren alle Kliniken rechtlich verpflichtet, alle Personen eines bestimmten Einzugsbereichs aufzunehmen – unabhängig von der Schwere ihrer Erkrankung oder selbstgefährdendem Verhalten. Problematische Fälle wurden also nicht mit höherer Wahrscheinlichkeit in eine Klinik mit geschlossener Abteilung eingewiesen.
Die Auswertung der Daten ergab: Suizidversuche und Suizide kommen in Kliniken ohne geschlossene Stationen nicht häufiger vor als in Kliniken mit geschlossenen Abteilungen. Auch Fluchten waren in Kliniken mit „offenen Türen“ nicht häufiger zu beobachten. Stattdessen war die Wahrscheinlichkeit für Suizidversuche und Entweichen (mit und ohne Rückkehr) an Kliniken ohne geschlossene Abteilungen sogar signifikant geringer – allerdings nicht die Wahrscheinlichkeit für vollendete Suizide. „Die Wirkung von geschlossenen Kliniktüren wird überschätzt“, sagt Christian Huber, Erstautor der Studie. „Eingeschlossen zu sein verbessert in unserer Untersuchung nicht die Sicherheit der Patienten und steht der Vorbeugung von Suizid und Entweichung teilweise sogar entgegen.“ Eine Atmosphäre von Kontrolle, eingeschränkten persönlichen Freiheiten und Zwangsmaßnahmen gefährde stattdessen eher eine erfolgreiche Therapie, so der Forscher.
„Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass geschlossene Stationen an einer allgemeinpsychiatrischen Klinik kein Muss sind, um Patienten mit Selbstgefährdungspotenzial zu schützen und am Entweichen zu hindern“, betont Huber. Stattdessen sei es wichtig, ein wertschätzendes Umfeld und eine offene, gute therapeutische Atmosphäre zu schaffen, bei der eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit den Patienten gefördert wird. „Eine Politik der offenen Türen erfordert, dass das Behandlungsteam besonders in Interaktion mit den Patienten tritt, sie stärker in die Therapie einbezieht und ein tragfähiges Bündnis mit dem Patienten eingeht“, sagt der Forscher. „Auf den Stationen sollte es ein gut ausgebautes Behandlungsangebot geben, dass eine rechtzeitig, adäquate medikamentöse Behandlung und ein spezifisches psychotherapeutisches Angebot umfasst.“ Maßnahmen der Zwangsbehandlung und Sicherheitsmaßnahmen – wie Medikation ohne Zustimmung, Fixierung oder Isolation – sollten bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung gesetzlich geregelt weiterhin angewandt werden können, so Huber. „Allerdings stellen solche Maßnahmen eine deutliche Freiheitseinschränkung dar und sollten nur angewandt werden, wenn keine weniger einschränkenden Alternativen bestehen. Außerdem sollten sie sich nur auf die gefährdeten Personen beziehen.“ Die Ergebnisse der Studie könnten auch juristische Fragestellungen beeinflussen, die sich bei der Öffnung von Kliniken ergeben. „Sie liefern bereits vollständig offen arbeitenden Kliniken ein wichtiges Argument, um sich den Forderungen nach Sicherheit durch Verwahrung entgegenzustellen“, sagt Huber. „Außerdem ermöglichen sie anderen Kliniken, sich in Richtung einer Politik der offenen Türen zu entwickeln.“
Insgesamt entsprächen die Ergebnisse seinen Erfahrungen in der Praxis, sagt Mazda Adli, Chefarzt der psychiatrischen Fliedner-Klinik Berlin und Forscher an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité - Universitätsmedizin Berlin. „Allerdings muss man sich klarmachen, dass es in der Studie nur um Suizidversuche und Suizide ging, nicht um fremdgefährdendes Verhalten“, sagt Adli. „Suizidalität kommt oft bei Patienten mit Depressionen vor und ist nur selten, bei sehr schwer einschätzbaren Kranheitsverläufen, Grund für die Aufnahme auf eine geschützte Station.“ Dagegen gebe es durchaus Patienten, für die eine geschützte Station vorübergehend sinnvoll sein könne, so Adli. „Das sind zum Beispiel akut manische Patienten, die nicht eingrenzbar sind, oder wahnhafte Patienten, die von starken Ängsten geplagt werden.“ Allerdings sollten die Stationstüren immer so kurze Zeit wie möglich geschlossen sein und in kurzen Abständen überprüft werden, ob dies noch notwendig sei. Dasselbe gelte auch bei akuter Fremdgefährdung – etwa bei Patienten, die im akuten Wahn die Umgebung falsch interpretieren und dann andere gefährden könnten. „Unabhängig davon, ob es in einer Klinik geschützte Stationen gibt oder nicht: Wichtig ist, eine positive therapeutische Atmosphäre zu schaffen, in der die Patienten sich sicher aufgehoben fühlen und bereit sind, freiwillig in der Klinik zu bleiben“, sagt Adli. Das bedeute vor allem in Kliniken mit „offenen Türen“ auch mehr Arbeit für Ärzte und Pflegepersonal – zum Beispiel durch die engmaschige Betreuung und Beobachtung der Patienten. „Dafür werden ausreichende zeitliche Ressourcen benötigt“, betont der Psychiater. „Es ist daher entscheidend, dass durch den ökonomischen Druck, möglichst kurze Behandlungszeiten zu erreichen, der Anteil geschlossener Türen in den Kliniken nicht ansteigt.“
Insgesamt gebe es in der Psychiatrie der westlichen Welt einen Trend zu immer mehr Zwangsmaßnahmen und Kontrolle, schreibt Tom Burns von der Abteilung Psychiatrie an der Universität Oxford in einem Kommentar zur aktuellen Studie. „Solche Maßnahmen werden von Land zu Land unterschiedlich gehandhabt – und dies spiegelt eher regionale Gepflogenheiten und Traditionen wider als nachgewiesene Unterschiede in den Eigenschaften der Patienten“, so Burns. Daher sei es sehr wichtig, darauf zu achten, dass solche Maßnahmen nicht willkürlich eingesetzt würden – und weiter zu erforschen, wie sich welche Maßnahmen auf das Verhalten und das Wohl der Patienten auswirken.