Unsere Wahrnehmung wird geprägt von unserem Umfeld. Irgendwie ist es wichtig, mich zwischendurch daran zu erinnern, dass all die Menschen, die ich im Krankenhaus sehe und erlebe, nicht repräsentativ sind für die Gesellschaft. Denn hier treffe ich auf erkrankte Menschen. Und zum Glück gibt es doch auch noch viele, die gesund herumlaufen 'da draußen'.
Obgleich ich kritisch anmerken muss, dass der Lebensstil, der in unserer Gesellschaft geführt wird, über kurz oder lang aus einigen Mitbürgern Patienten werden lässt. Und ich kann es mir mittlerweile kaum mehr verkneifen, bei einigen Leuten, die mir im Alltag begegnen, beispielsweise darüber nachzudenken, ob die Diagnose COPD schon gestellt wurde. Diese meist durch jahrelanges Rauchen verursachte Erkrankung führt dazu, dass Leute irgendwann kaum mehr Luft bekommen. Obwohl ich natürlich auch daneben liegen kann - nicht umsonst gibt es vor der Diagnosestellung umfangreiche Diagnostik - aber irgendwie bekommt man so einen Blick mit der Zeit...
Auch wenn ich also nicht auf einen repräsentativen Teil der Gesellschaft treffe in der Klinik, so haben die Menschen, mit denen ich es tagtäglich zu tun bekomme, oft einen ganz anderen Hintergrund als die Leute aus meinem privaten Umfeld: Studenten, Akademiker, privilegierte gutverdienende Städter. Im Krankenhaus treffe ich auf einen Teil der Gesellschaft, der mir sonst verborgen bleiben würde. Hier lerne ich Menschen als Patienten kennen, denen ich ansonsten in meiner Alltagsblase nicht begegnen würde. Oder an denen ich auf der Straße vorbei gehen würde. Im Krankenhaus, ich in meiner Rolle als PJlerin, die Leute als Patienten, die ärztlichen Rat, Heilung, Therapie suchen, so beginnt die Interaktion.
Da war dieser Seemann in einem meiner ersten Pflegepraktika vor fünf Jahren, dessen Leber nach einem ausschweifenden Leben langsam ausstieg. Der mir von seiner japanischen Freundin erzählte, die er bei einer seiner Reisen kennenlernte und die ihn besuchen kam. Dessen Augen in dem Moment ganz jung aussahen und leuchteten und so gar nicht zu dem ausgemergelten alten Körper passen wollten.
Der Hooligan, dessen auffällige Narbe am Kopf von einer Auseinandersetzung mit einem Fan eines anderen Vereins stammte, die gewalttätig endete. Der immer noch etwas stolz wirkt dabei, diese Geschichte zu erzählen.
Der obdachlose junge Epileptiker in Paris, der es nicht schaffte, seine Medikamente richtig einzunehmen, weil er sich auf der Straße nicht sicher genug fühlte, um die Tabletten, die teils deutlich sedierende (also müde machende) Nebenwirkungen haben, zu nehmen. Und dafür Krampfanfälle in Kauf nahm... Und tief enttäuscht die Notaufnahme verließ, als der Oberarzt ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, dass er ihm hier und jetzt mit dieser Situation nicht würde helfen können.
Oder die Frau mit dem akuten Herzinfarkt, die 500km entfernt wohnte und nach zwei Wochen Campingurlaub heute früh hätte nach Hause aufbrechen wollen, wäre es ihr dann nicht so dramatisch schlecht gegangen, dass klar war: sie musste sich Hilfe suchen und zwar schnell.
Meist sind die Lebensgeschichten der Patienten für die Therapie nicht unbedingt erforderlich. Immer gehören sie aber dazu. Werden von Ärzten und Schwestern genutzt, um sich zu erinnern an einen Patienten. Auch, um besser zu verstehen, auf welcher Ebene Zugang zum Patienten gewonnen werden kann; im schlimmsten Fall, um ihn in eine Schublade zu schieben und nicht weiter zuhören zu müssen.
Ich habe den Eindruck, dass Patienten es schätzen, wenn Ärzte sie ein Stück weit kennen lernen. Denn obwohl Therapie nach Leitlinien und Prozessen recht mechanisch wirken kann, ist jeder 'Fall' in erster Linie doch ein Mensch und nicht nur Patient.
Manchmal reagieren Ärzte mit Unverständnis darauf, wenn Patienten nicht wissen, welche Medikamente sie genau nehmen, wann ein operativer Eingriff war, die letzte Vorsorgeuntersuchung. Doch was für uns im Mittelpunkt unseres Interesses steht, ist autobiografisch für unser Gegenüber nur ein kleiner Teil des eigenen Lebens. Zum Glück. Denn irgendwie wäre es ja schade, wenn es da nicht noch weitere Lebensinhalte gäbe im Leben von Menschen - unserer Patienten.
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