Das 30-Minuten-Zeitfenster für die Verlegung von Schlaganfallpatienten in Spezialeinheiten wurde gerichtlich neu definiert: Die Transportzeit beginnt nun, sobald eine Verlegung entschieden wurde. Eine Abrechnung für Kliniken ist so unmöglich. Medizinisch und ökonomisch ein Unding.
Heute geht es um die Frage, wie lange der Transport eines Schlaganfallpatienten von einem Klinikum zur Spezialeinheit für Schlaganfälle maximal dauern darf. Aber der Reihe nach: Es handelt sich hier mal wieder um einen Abrechnungsstreit. Bislang konnten Krankenhäuser für die Verlegung eines Schlaganfallpatienten in ein entsprechendes Fachzentrum eine zusätzliche Vergütung erhalten, solange der Transport zur Spezialeinheit innerhalb von 30 Minuten erfolgte.
Im vorliegenden Fall hatte der Kostenträger (die Kasse) einer Klinik besagte Vergütung gekürzt. Der Grund: Die Strukturvorgabe von einer halbstündigen Transportentfernung wurde nicht erfüllt.
Der Fall landete vor dem Bundessozialgericht, unser hochheiliges und unantastbares Bundessozialgericht hat gesprochen und bundesweit ordentlich ausgeteilt. So hat es entschieden, dass das Transport-Zeitfenster beginnt, sobald die Entscheidung für den Transport gefallen ist. Demnach ist eine Abrechnung in Zukunft so gut wie unmöglich.
Kostenträger lehnte die Zahlung ab
Ein Blick auf die Details: Es geht in dem Klageverfahren (B 1 KR 39/17 R) um mehrere Behandlungsfälle, in denen Patienten aufgrund eines akuten Schlaganfalls im Klinikum der Klägerin stationär behandelt wurden. Das klagende Krankenhaus konnte zum Behandlungszeitpunkt weder neurochirurgische, gefäßchirurgische oder interventionell-radiologische Maßnahmen selbst durchführen, sondern verlegte Patienten für neurochirurgische Eingriffe in ein hierzu geeignetes Krankenhaus. Besagtes Krankenhaus erbrachte dann die erforderlichen gefäßchirurgischen und interventionell-radiologischen Maßnahmen.
Nach Entlassung der Patienten rechnete das klagende Krankenhaus unter anderem die Prozedur 8–98b (Andere neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls) ab. Der Kostenträger lehnte die Zahlung dieser Leistungen ab, da die Entfernung zwischen den Kliniken nicht grundsätzlich in höchstens halbstündiger Transportentfernung zurückgelegt werden kann.
Beide Vorinstanzen (Sozialgericht Trier, nachfolgend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz) haben die Klage abgewiesen. Also legte die Klinik Revision beim Bundessozialgericht ein, das mit Urteil vom 19.06.2018 die Klage ebenso abwies.
Um welche Leistung handelt es sich?
Zunächst sollte man sich die erbrachte/abgerechnete Leistung genauer ansehen. Es handelt sich um den OPS 8–98b:
„Die andere neurologische Komplexbehandlung des akuten Schlaganfalls ist im Wesentlichen gekennzeichnet durch eine Behandlung auf einer spezialisierten Einheit durch ein multidisziplinäres, auf die Schlaganfallbehandlung spezialisiertes Team unter fachlicher Behandlungsleitung durch einen Facharzt für Neurologie und diverser Mindestmerkmale wie 24-stündliche ärztliche Anwesenheit, 24-Stunden-Monitoring von Blutdruck, Herzfrequenz, EKG, Atmung, Sauerstoffsättigung, Temperatur, intrakranieller Druck, EEG, evozierte Potentiale, 6-stündlicher Überwachung und Dokumentation des neurologischen Befundes durch einen Arzt zur Früherkennung von Schlaganfallprogression, -rezidiv und anderen Komplikationen, Durchführung einer Computertomographie oder Kernspintomographie, bei Lyseindikation innerhalb von 60 Minuten, ansonsten innerhalb von 6 Stunden nach der Aufnahme, Durchführung der neurosonologischen Untersuchung der extra- und intrakraniellen hirnversorgenden Gefäße zur Abklärung des akuten Schlaganfalls, ätiologischer Diagnostik und Differenzialdiagnostik des Schlaganfalls, kontinuierlicher Möglichkeit zur Fibrinolysetherapie des Schlaganfalls, Beginn von Maßnahmen der Physiotherapie, Ergotherapie oder Logopädie spätestens am Tag nach der Aufnahme in die Schlaganfalleinheit.“
Das Prozedere wird also nicht umsonst als Komplexbehandlung bezeichnet. Darüber hinaus gibt es noch das Merkmal des unmittelbaren Zugangs „zu neurochirurgischen Notfalleingriffen sowie zu gefäßchirurgischen und interventionell-neuroradiologischen Behandlungsmaßnahmen (Es gibt jeweils eine eigene Abteilung im Hause oder einen Kooperationspartner in höchstens halbstündiger Transportentfernung (Zeit zwischen Rettungstransportbeginn und Rettungstransportende). Das Strukturmerkmal ist erfüllt, wenn die halbstündige Transportentfernung unter Verwendung des schnellstmöglichen Transportmittels (z.B. Hubschrauber) grundsätzlich erfüllbar ist.“
Die halbe Stunde kann nicht eingehalten werden?
Eine halbe Stunde zwischen Klinik A und Klinik B. Einfach möchte man meinen. Das Bundessozialgericht sah es anders:
In den 17 Behandlungsfällen waren die nächtlichen Hubschraubertransporte streitig. Tagsüber würde der Transport laut den Feststellungen des Landessozialgerichtes mittels Hubschrauber lediglich 19 Minuten dauern. Da der im Krankenhaus der Klägerin stationierte Hubschrauber jedoch nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fliegt, denn dieser ist nicht nachtflugfähig, betrug die nächtliche Transportzeit aufgrund der längeren Anflugzeit teils über eine Stunde.
Daraus schloss das Bundessozialgericht zum einen, dass die grundsätzliche Transportzeit von höchstens einer halben Stunde nicht erfüllt werden könne, da regelmäßig, zumindest nachts, diese Zeit nicht eingehalten werden konnte. Soweit nachvollziehbar.
Darüber hinaus stellte das Bundessozialgericht allerdings fest, dass die Transportzeit sich nach dem Zeitintervall zwischen Rettungstransportbeginn – dem Ingangsetzen der Rettungskette durch die Entscheidung, ein Transportmittel anzufordern – und Rettungstransportende – der Übergabe des Patienten an die behandelnde Einheit im Kooperationspartner-Krankenhaus – bemesse. Dies folge aus Wortlaut von OPS 8–98b.
Merkwürdige Definition des Bundessozialgericht
Nochmal zur Erinnerung der Wortlaut des OPS: „Zeit zwischen Rettungstransportbeginn und Rettungstransportende“. Daraus macht das Bundessozialgericht also Entscheidung zum Transport und Übergabe an nächsten Behandler.
Das mag unter dem Aspekt plausibel sein, dass für einen medizinischen Laien, etwa einen Juristen, die Entscheidung zum neurochirurgischen Notfalleingriff oder genannten Maßnahmen und Übergabe an den entsprechenden Behandler insgesamt als Zugang zu den erforderlichen Maßnahmen verstanden werden kann. Sicher wird es auch medizinisch sinnvoll sein, solche Maßnahmen nicht aufgrund von strukturellen Defiziten dem Patienten zu spät zur Verfügung zu stellen.
Allerdings sind die Vergütungsregeln nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes eng am Wortlaut (B 1 KR 9/15 R) auszulegen. Und im Wortlaut steht nun einmal Zeit zwischen Rettungstransport-Beginn und Rettungstransport-Ende. Bei aller Fantasie gehört eine ärztliche Entscheidung, die Organisation des Transportes, die Vorbereitung des Patienten, der Empfang des Patienten im anderen Haus nicht zur Zeit zwischen Rettungstransportbeginn und -ende.
Urteil hat für kleine Häuser große Konsequenzen
Abgesehen davon, dass ich dies einfach für falsch halte, hat man hier wieder einmal den Eindruck, dass das Bundessozialgericht seinem Ruf nach dem zweiten Gesetzgeber gerecht werden will und insbesondere auch in die Krankenhausplanung eingreifen möchte. Denn, dass dieses Urteil für viele kleinere Häuser ohne Neurochirurgie einen argen Eingriff in ihr Leistungsspektrum bedeutet und teilweise schwerwiegende Konsequenzen auf finanzieller, personeller und struktureller Ebene birgt, dürfte eindeutig sein.
Gut, dass das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) diesmal reagiert hat und einfach einen Passus mit Geltung ab 01.01.2019 in den OPS eingefügt hat:
„[…] innerhalb einer halben Stunde zwischen Rettungstransportbeginn und Rettungstransportende (das ist die Zeit, die der Patient im Transportmittel verbringt) erreichbar ist“
Vielleicht nicht sehr hübsch formuliert, dafür aber sehr eindeutig und klar.
Zwei oder vier Jahre rückwirkend?
Schade nur, dass dies nicht die Behandlungsfälle betrifft, die in den deutschen Kliniken in den vergangen Jahren erbracht worden sind. Diese sind nun alle von einer möglichen Verrechnung betroffen. Allerdings gilt das vielleicht doch nur zwei, statt wie zunächst angeündigt vier Jahre rückwirkend.
Der Bundestag hat jetzt nämlich sehr kurzfristig die fixe Idee, die Verjährungsfrist für alle Ansprüche aus Krankenhausbehandlungen von vier auf zwei Jahre zu verkürzen, rückwirkend ab dem 01.01.2019. Für Kliniken und Kostenträger. Dazu fällt mir auch nichts mehr ein. Es bleibt also spannend und arbeitsreich.