Herr Paschinski kommt zur Operation eines Nabelbruchs. Der Bruch stört ihn wirklich sehr, sagt er. Beim Husten, beim Laufen, eigentlich immer. Der muss weg, soviel ist klar. Ich merke beim Anästhesiegespräch, dass der alte Herr mir etwas verschweigt.
Ich sehe Herrn Paschinski am Nachmittag vor dem Operationstag zur Anästhesieaufklärung. Eine Vollnarkose muss es sein, was anderes kommt für diesen bestimmten Eingriff nicht infrage. Ich stelle alle meine Fragen, die ich brauche, um den älteren, irgendwie leicht klapprig aussehenden Herrn einzuschätzen. Einen BMI von knapp 17 hat er, und so sieht er auch aus: Mager, ausgemergelt, unterernährt.
Interessant wird es erst, als die Pflege ins Zimmer kommt, um die Blutdruckwerte zu messen – der Blutdruck ist gut, aber der Puls ist 30 Schläge pro Minute. Besonders viel ist das nicht.
„Ihr Puls ist ganz schön langsam“, sage ich zu ihm. Der Puls passt gut zu einem jungen Sportler, aber nicht ganz so gut zu einem 80-Jährigen am Gehstock.
„Das weiss ich“, antwortet Herr Paschinski. „Das ist schon seit einer Weile so.“
„Hat man das mal abgeklärt?“
„Öhmmmm…“ Herr Paschinski druckst rum. Irgendwas ist da im Busch.
„Sonst müssten wir das hier noch erledigen.“ Es ist eher eine Warnung als ein Vorschlag. Rück mit der Sprache raus, sonst find ich selbst raus, was los ist.
Das hilft. „Ich war in der Uniklinik vor ein paar Monaten.“
„Und ist dabei was rausgekommen?“
„Ich… weiss nicht mehr. Nichts, glaube ich, alles gut.“ Irgendwie glaube ich ihm nicht so recht.
Herr Paschinski wird oft schwarz vor Augen
Ich stelle noch ein paar Fragen zur Abschätzung seiner Leistungsfähigkeit. Nein, zwei Stockwerke an Treppen kann er nicht mehr gehen. Ja, schwindelig ist ihm oft, und manchmal wird ihm auch schwarz vor den Augen, aber das „sei nicht so schlimm“. Alles sehr suspekt.
Leider liegt noch kein EKG vor, aber das wird mir sowieso nicht ausreichen. Ich bitte die Medizinstudentin der Station, die Berichte anzufordern. (Schon ein schönes Gefühl, wenn man sowas delegieren kann.)
Wie das so ist, vergeht eine Weile, bis der Bericht ankommt – wir sind inzwischen an unserem Rapport, als ich den Anruf erhalte. Die Studentin hat ihn schon kurz überflogen und meint, ich müsse mir das vielleicht besser selber ansehen. Sie schickt mir den Bericht per Rohrpost.
Stutzig macht mich schon die Einleitung: „Wir berichten von der Untersuchung von Herrn Paschinski, den wir im Auftrag der hausinternen chirurgischen Abteilung präoperativ zur Sanierung eines Nabelbruchs abgeklärt haben.“ Hmm. Der war da schon? Warum haben sie das dann nicht gleich dort gemacht?
Wichtiges verschwiegen
Die Antwort findet sich im Abschnitt „Beurteilung und Procedere“: „Wir haben Herrn Paschinski dringend zur Implantation eines Schrittmachers geraten, welche er aber ablehnte. Aus diesen Grund sehen wir das Risiko für einen Wahleingriff als zu groß und lehnen Herrn Paschinski zur Operation ab. Sollte er sich im Verlauf noch zur Implantation des Schrittmachers entscheiden, darf er sich gerne wieder bei uns vorstellen.“
Sprich, die Wahrscheinlichkeit, dass während der Operation ein schweres Herz- oder Kreislaufproblem auftritt oder der Patient sogar verstirbt, ist den Kollegen im großen Haus zu hoch. Der Eingriff ist nicht dringend notwendig und wird daher schlicht nicht durchgeführt.
Bei uns kommt der Verdacht hoch, dass Herr Paschinski es deshalb einfach bei uns versucht hat, die Befunde verschwieg, um doch noch seine Operation zu erhalten. Netter Versuch, hat aber leider nicht geklappt.
Wir diskutieren den Fall untereinander. Natürlich ist ein Nabelbruch unangenehm. Aber wenn die Situation den Kollegen im Uni zu heikel ist, dann sollten wir als deutlich kleineres Haus mit deutlich weniger Erfahrung mit heiklen Fällen erst recht die Finger davon lassen. Auch haben wir hier weniger Möglichkeiten – keine schnell verfügbaren Kardiotechniker, keine Möglichkeit zur Notfall-Herzoperation, kein Back-up von dieser Seite.
Man darf auch Nein sagen
Wir entscheiden daher, Herrn Paschinski ebenfalls abzulehnen. Da das aber bei den Chirurgen meist nicht so schön rüberkommt, wenn wir einfach selber bestimmen, holen wir uns den Operateur ins Boot. Wir rufen ihn an und schildern die Situation. Auch er möchte sich da keinen unnötigen Ärger einhandeln, bietet sogar an, den Patienten direkt selber zu informieren.
Wir machen vieles möglich, gehen häufig Kompromisse ein, bei denen uns selbst kaum mehr wohl ist. Aber wir müssen uns nicht unnötig in schwierige Situationen zwängen lassen, wenn wir sie nicht selber verantworten können. Ich bin froh, in einem Team zu arbeiten, in welchem solche schwierigen Entscheide getroffen werden können und auch mal einfach nein gesagt werden kann.
Wenn es keine Notfallsituation ist, soll man das nämlich durchaus dürfen.