Wo steht die Onkologie – und wohin soll die Reise gehen? Diese Fragen haben Wissenschaftler weltweit führender Institutionen jetzt beantwortet. Ihr Ergebnis: Zwölf Ansätze, um maligne Erkrankungen zu identifizieren, zu kontrollieren, aber auch um Therapien zu finanzieren.
Forscher am Robert Koch-Institut schätzen, dass es im Jahr 2016 bundesweit rund 500.000 neue Krebsfälle geben wird. Bei Männern stehen Prostata-, Lungen und Darmkrebs nach wie vor an der Spitze. Frauen leiden vor allem an Brustkrebs, Darmkrebs und Lungenkrebs. Immer häufiger gelingt es Onkologen, maligne Erkrankungen zu heilen oder langfristig zu kontrollieren. Experten des Brigham and Women’s Hospital, des Massachusetts General Hospital und des Dana-Farber Cancer Institute äußerten sich jetzt zu den wichtigsten Trends. Ihre Favoriten:
Waren Biopsien mit Gewebeentnahme lange Zeit Standard, heißt das neue Zauberwort „Liquid Biopsy“. Ärzte fahnden im Blut von Patienten nach zellfreier Tumor-DNA oder nach zirkulierenden Tumorzellen. Momentan geht es eher um die Untersuchung und die Bewertung von Therapieerfolgen, falls klassische Verfahren nicht möglich respektive zu belastend sind. Hinzu kommt der zeitliche Vorteil. Während die Pathologie mehrere Tage braucht, sind molekularbiologische Daten oft innerhalb von 24 Stunden verfügbar. Onkologen halten Screeningverfahren auf Basis von Blutproben in Zukunft für möglich. Quelle: www.mycancergenome.org
Noch ein weiterer Blick in das Labor der Zukunft: Sequenzierungen werden preisgünstiger und funktionieren schneller – „Next Generation Sequencing“-Technologien sei Dank. Beispielsweise bietet das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg Patienten schon heute Erbgutanalysen an. Molekulare und klinischen Daten werden anschließend zusammengeführt.
Onkologen erwarten, in Zukunft Therapien weitaus seltener aufgrund des betroffenen Organsystems auszuwählen. Genetische Informationen gewinnen nicht nur bei der Wahl maßgeschneiderter Arzneistoffe an Bedeutung. Das National Cancer Institute (NCI) untersucht schon jetzt im Rahmen der NCI-MATCH-Studie bei 3.000 Patienten mit therapieresistenten Tumoren, ob maßgeschneiderte Wirkstoffe verfügbar sind.
Onkologen am NCI setzen unter anderem auf Checkpoint-Inhibitoren. Es handelt sich um Antikörper gegen Proteine, die unsere Immunantwort bei Melanomen, nicht-kleinzelligen Lungenkarzinomen oder Nierenzellkarzinomen steuern. Wichtige Targets sind derzeit CTLA-4, PD-1 oder PD-L1. Jetzt kombinieren Kollegen Hemmstoffe mit Bestrahlungen oder Chemotherapien, um den Erfolg zu optimieren. Gleichzeitig suchen sie nach weiteren Indikationen und Zielstrukturen.
Speziell bei malignen hämatologischen Erkrankungen setzen Onkologen große Hoffnungen in den adoptiven Zelltransfer. Dabei werden autologe T-Zellen mit einem chimeren Antigenrezeptor (CAR, chimeric antigen receptor) ausgestattet. Präsentieren Tumorzellen entsprechende Antigene auf ihrer Oberfläche, lassen sie sich durch T-Zellen eliminieren.
DNA- oder RNA-Analytik ist nur ein Teil der Wahrheit. Seit der Einführung der Genschere CRISPR (Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats) ist es möglich, Sequenzen im Erbgut zu finden, herauszuschneiden und durch ein anderes Gen zu ersetzen. Dass die Methode generell funktioniert, konnte bei Pflanzen gezeigt werden. Jetzt ist eine Phase-I-Studie bei malignen Melanomen geplant. Forscher sprechen bei CRISPR schon heute von einem der wichtigsten Tools der letzten 100 Jahre. https://www.youtube.com/watch?v=ouXrsr7U8WI
In einem Experiment korrelierten mehr als 40 Prozent aller Gene mit wenigen bekannter Zellzyklus-Markern (orange) - Grafik: Florian Büttner, TUM Genetische Analysen reichen nicht aus, um zu erkennen, welche DNA-Abschnitte abgelesen werden. Deshalb setzen Wissenschaftler verstärkt auf molekulare Fingerabdrücke. Sie isolieren Zellen und bestimmen die Expression von mRNAs. Diese Einzelzellanalyse ist für hunderte von Zellen möglich. Allerdings können Störfaktoren, wie eine kurzfristig veränderte Genexpression durch den Zellzyklus oder Differenzierungsprozesse, die Ergebnisse beeinflussen. Mit bioinformatischen Methoden ist es Forschern kürzlich gelungen, Unsicherheitsfaktoren statistisch zu korrigieren – ein wichtiger Ansatz für die Krebsforschung.
Darüber hinaus beeinflussen epigenetische Veränderungen die DNA und die Proteine zum Packen von Nukleinsäuren. Ihre Aufgabe ist, Wachstum und Zellteilung zu kontrollieren - zwei neuralgische Punkte. Funktionsstörungen führen zu malignen Erkrankungen, bieten aber auch neue therapeutische Targets. Beim Glioblasom ist es Forschern beispielsweise gelungen, Proteine zu identifizieren, die epigenetische Prozesse steuern. Hier könnten neue Arzneistoffe ansetzen.
Als weiteres Target für innovative Arzneistoffe nennen Forscher das Mikrobiom. Dazu ein paar Zahlen. In unserem Darm tummeln sich zehn bis 100 Billionen Bakterien. Beim MetaHIT-Projekts (Metaenomics oft the Human Intestinal Tract) fanden Molekularbiologen mehr als 1.000 unterschiedliche Bakterienspezies mit 3,3 Millionen Genen. Welche Bedeutung dieses Mikrobiom bei Krebserkrankungen hat, zeigt sich immer deutlicher. In einem Melanom-Mausmodell haben Forscher gezeigt, dass Darmbakterien das Immunsystem „boostern“. Erhielten Nager zusätzlich noch den Checkpoint-Inhibitor Anti-PD-L1, verschwand der Tumor. Welchen Beitrag das Mikrobiom tatsächlich leisten kann, ist Gegenstand zahlreicher Studien.
Ansonsten befassen sich Labors mit der Frage, welches Potenzial in Nanotechnologien steckt. Sie arbeiten mit Partikeln im Bereich von 20 bis 100 Nanometern, teilweise auch darunter. Dabei gibt es mehrere Strategien. Kleine Teilchen mit spezifischen Liganden an der Oberfläche eignen sich generell als „Drug Delivery“-Systeme, um Pharmaka an spezifische Zellen zu transportieren. Zumindest im Labor und im Tierexperiment funktioniert die Methode. Eisenoxid-Nanopartikel sind schon in der Praxis angekommen. Sie reichern sich in Hirntumoren an. Führen Ärzte extern Energie in Form eines Magnetfeldes zu, zerstören sie entartete Zellen. Um Nanotherapien generell voranzubringen, gibt es zwei große Herausforderungen. Körpereigene Barrieren, wie die Blut-Hin-Schranke, machen Forschern noch zu schaffen. Hinzu kommt, dass das Immunsystem überlistet werden muss, um Nanopartikel nicht als Fremdkörper zu attackieren.
Jede Therapie, egal ob physikalischer oder pharmazeutischer Natur, braucht Begleitung. Das geht mittlerweile recht einfach. Per Smartphone oder Tablet-Computer halten Ärzte Kontakt zu ihren Patienten. Sie werten Vitalparameter in Echtzeit aus, um gegebenenfalls schneller zu intervenieren. Smarte Technologien verbessern auch die Adhärenz. Kommt es zu bekannten, aber tolerierbaren Nebenwirkungen, verhindern Ärzte durch laiengerechte Informationen, dass Patienten ihre Therapie abbrechen. Therapeutische Ziele werden besser erreicht, und Versicherungen sparen letztlich Geld. Schon heute starten pharmazeutische Hersteller erste Testballons.
Bleibt als KO-Kriterium das liebe Geld. Innovative Arzneimittel schlagen mit exorbitant hohen Kosten zu Buche. Doch wie lässt sich Nutzen definieren? Besonders bei sehr aggressiven Tumorformen reichen schon kleine Fortschritte im Gesamtüberleben oder im progressionsfreien Überleben, um als Innovation zu gelten, kritisieren Onkologen. Sie raten, Erkrankte stärker über ihre Lebensqualität mit einzubeziehen.