Ich hole im Wartezimmer ein älteres Ehepaar für die Sprechstunde ab. Der Mann soll eine Operation erhalten. Ich begrüße die beiden und stelle mich vor: „Mein Name ist Gramsel, ich bin Narkoseärztin“. Dann neheme ich die zwei mit ins Sprechzimmer.
Das Gespräch gestaltet sich soweit unauffällig. Seltsam ist nur, dass der Patient keine einzige Frage allein beantworten kann und zur Sicherheit immer erst die Frau anguckt, bevor er eine Antwort gibt, die dann von ihr meistens noch korrigiert wird. Kenne ich sonst eher von jungen Männern und ihren Müttern, aber stören soll mich das ja nicht – Hauptsache, ich bekomme die Antworten.
Ich empfehle eine Rückenmarksnarkose. Die Frau ist skeptisch, stellt ein paar zusätzliche Fragen, welche ich ihr natürlich gerne beantworte. Ich schätze die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den nächsten Tagen anruft und dennoch eine Vollnarkose (für ihren Mann) wünscht, auf etwa 50 Prozent, obwohl sie am Ende grundsätzlich besänftigt ist.
Während der Göttergatte doch immerhin selbstständig unterschreibt, sagt sie plötzlich unvermittelt: „Wissen Sie, als ich Sie gesehen habe, da hab ich mir schon gedacht: Ach, du meine Güte!“ Sie legt theatralisch den Kopf in die Hände, ein richtiger Facepalm, und sagt noch: „Die ist doch viel zu jung. Aber Sie haben das sehr gut erklärt.“
Mich „zu jung“ zu nennen ist etwa einer der einfachsten Wege, mir die Laune zu verderben. „So jung bin ich auch wieder nicht, auch wenn es so aussieht. Ich bin dreißig.“
Ja, ich weiß. Für eine 80-Jährige ist das trotzdem noch jung. Aber sollte ich mit dreißig nicht alt genug sein, um wenigstens halbwegs ernst genommen zu werden in meinem Beruf?
Als ich ihr das erkläre, geht es komplett an ihr vorbei. „Ja, aber so jung und schon so weit!“
„Das Medizinstudium schließt man Mitte bis Ende der Zwanziger ab. Wie gesagt. So jung bin ich nicht.“
„Ja, aber Sie haben das so gut gemacht, auch wenn Sie noch so jung sind!“
Ich gebe auf und versuche, damit zufrieden zu sein, dass ich wenigstens mit Kompetenz punkten konnte. Was anderes bleibt mir ja dann doch nicht übrig.
Wetten, dass sich mein 24-jähriger Medizinstudent mit seinen 1,80 Meter und dem Dreitagebart so was nicht hätte anhören müssen?