Egal auf welcher Seite der leidenschaftlich geführten Debatte man sich befindet, eines ist klar: Die Weigerung der Behörden erschwert die Erforschung und Entwicklung seriöser anti-aging Behandlungen. Dabei bräuchten wir die so dringend.
Medizinische Überwachungsbehörden, wie die amerikanische FDA und ihr europäisches Pendent EMA, weigern sich, das Altern als Krankheit anzuerkennen.
Ganz schlüssig ist diese Weigerung nicht, denn, erstens, ist das chronologische Alter der dominante Risikofaktor für jene chronischen Erkrankungen, die unsere Sterbelisten anführen, allen voran die Herz-Kreislauferkrankungen [1].
Zweitens, definieren Medizin und Biologie sowohl diese chronischen Erkrankungen, als auch das Altern als "fortschreitenden Verfall von Vitalfunktionen".
Egal auf welcher Seite der leidenschaftlich geführten Debatte man sich befindet, eines ist klar: Die Weigerung der Behörden erschwert die Erforschung und Entwicklung seriöser anti-aging Behandlungen.
Schließlich gibt's öffentliche Fördermittel nur für anerkannten medizinischen Behandlungsbedarf.
Was wäre nun, wenn wir die Robustheit gegen den Alterungsprozess zum Behandlungsziel erklärten?
Die Robustheit, auf englisch "Robustness", ist ein Markenzeichen aller komplexen Systeme. Sie beschreibt deren Fähigkeit, die Vitalfunktionen gegen externe und interne Herausforderungen aufrecht zu erhalten [2].
Selbst wenn einzelne Komponenten des Systems ausfallen oder beschädigt sind.
Da die Medizinwissenschaft, wie bereits erwähnt, das Altern und die chronische Erkrankung als fortschreitenden Funktionsverfall definiert, ist Robustness gegen die Ursachen dieses alterungsbedingten Verfalls ein plausibles und legitimes Behandlungsziel.
Plausibel und legitim auch für die glühendsten Verfechter der Altern-ist-keine-Krankheit Doktrin.
Dass die Robustness in der Medizin bislang keine Rolle als Interventionsziel spielt ist alleine einem medizinwissenschaftlichen Aberglauben zuzuschreiben.
Jenem Aberglauben, dass jede auch noch so komplexe Krankheit auf einen oder wenige molekulare Übeltäter reduziert werden kann.
Diesem reduktionistischen Weltbild hat die Wissenschaft komplexer Systeme längst die Glaubwürdigkeit entzogen.
Das Verhalten dieser Systeme ergibt sich aus den nicht-linearen komplexen Interaktionen zwischen allen Systemkomponenten.
Das Ergebnis sind emergente funktionale Phänotypen. Emergent steht hier für die Herausbildung von Eigenschaften, die selbst bei vollständiger Kenntnis aller Systemkomponenten unvorhersagbar sind [3].
Das Ganze ist also mehr als die Summe seiner Einzelteile.
Zumindest in der Systembiologie, dem einzigen der Medizin nahestehenden Zweig der Biologie, der die Erkenntnisse der Komplexitätswissenschaft verinnerlicht hat.
Deshalb haben meine Kollegen und ich die Wertigkeit der kardiovaskulären Robustness als Marker und Interventionsziel für das vaskuläre Altern untersucht [4].
Auf die Gefäßalterung haben wir uns aus zwei Gründen eingeschossen.
Erstens, weil die chronische kardiovaskuläre Krankheit Todesursache Nummer eins ist. Jedes Jahr, ununterbrochen seit genau hundert Jahren. Nur die spanische Grippe forderte 1918 mehr Leben.
Zweitens, weil die vaskuläre Funktion eine rein mechanisch-hydraulische ist.
Die Fähigkeit ausreichend Blut und Nährstoff zu jeder Zelle des Körpers zu transportieren lässt sich mit ausschließlich physikalischen Funktionsparametern beschreiben.
Leitungswiderstand und -elastizität, Druck und Masseträgheit der Flüssigkeitssäule sind Parameter, die die physikalische Funktion um ein Vielfaches zuverlässiger beschreiben als die bislang verwendeten Surrogatparameter (Flussvermittelte Vasodilatation FMD, Pulswellengeschwindigkeit PWV, und bestimmte molekulare Marker wie Troponin oder NT-pro-BNP) [5].
Kenntnis dieser physikalischen Funktionsgrößen gestatten dem Ingenieur den Nachbau des aus einer pulsierenden Pumpe und elastischen Röhren bestehenden kardiovaskulären hämodynamischen Systems.
Legt man dem das elektrisch-hydraulische Analog zugrunde gelingt dieser Nachbau sogar als digitales Modell.
Ein solches Modell haben wir der Untersuchung der vaskulären Funktionsgrößen und ihrer Bedeutung für die Gefäßalterung zugrunde gelegt .
Über Evolutionsalgorithmen findet dieses Modell genau jene Kombination von vaskulärer Elastanz, Widerstand und Masseträgheit, mit der die originäre Pulsdruckwelle eines Patienten detailgetreu nachgebildet werden kann.
Jene Parameterkombination also, die die Pulsdruckwelle des biologischen Originals prägt.
Unser Hintergedanke: In der sich im Laufe des Alterungsprozesses verändernden Partitur der Funktionsparameter wird die individuell unterschiedliche Alterungsrate erkennbar.
Unsere Hypothese: In der Querschnittsbetrachtung einer Bevölkerung gesunder und kranker Menschen im Alter von 21 bis ü-90 wird in der Gruppe der Patienten mit einer kardiovaskulären Ereignishistorie das Robustness Paradox erkennbar: ein signifikanter positiver Robustness Trend entlang der Achse des kalendarischen Alters.
Dieser Trend ist der bevorzugten Eliminierung der weniger Robusten unter den kardiovaskulären Ereignissen belasteten Patienten geschuldet.
Unsere Hypothese unterstützend konnten wir diesen Trend nicht nur in der Patientengruppe nachweisen, sondern auch in der Subpopulation der lediglich mit erhöhten Risikofaktoren (Hypercholesterinämie, Hypertonie) belasteten Probanden ohne Ereignishistorie.
Unsere Entdeckung hat einen wesentlichen Nutzen: Funktionseinschränkungen lassen sich anhand der physikalischen Funktionsparameter schon im jungen Erwachsenenalter nachweisen. Also bei jenen Menschen, die alleine aufgrund ihres chronologischen Alters unter dem Radar der herkömmlichen Risikoscores bleiben.
Und über die Funktionsparameter Elastanz und Widerstand lassen sich objektive Wirkungsnachweise für präventive und therapeutische Interventionen erbringen.
Da wir die Robustness als Korrekturfaktor des chronologischen Alters ausdrücken, ist das sich daraus ergebende biologische Funktionsalter auch dem Laien intuitiv sofort verständlich.
Als Proxy für die Ereigniswahrscheinlichkeit hat die vaskuläre Robustness das Potenzial, die Dauer und die Kosten klinischer Studien deutlich zu verringern.
Dank der bekannten therapeutischen Einflussgrößen auf Gefäßwiderstand und Elastanz bietet die Funktionsdiagnostik deshalb die Möglichkeit, die Lebens- und Gesundheitserwartung gezielt, individualisiert und signifikant zu erhöhen.
Mit verfügbaren Lebensstil- und pharmakologischen Strategien.
Und vor Allem ohne die Frage beantworten zu müssen, ob das Altern nun eine Krankheit ist oder nicht.
Bibliographie
[1] N. J. Wald, M. Simmonds, and J. K. Morris, “Screening for future cardiovascular disease using age alone compared with multiple risk factors and age,” PLoS One, vol. 6, no. 5, p. e18742, 2011.
[2] H. Kitano, “Biological robustness,” Nat. Rev. Genet., vol. 5, no. 11, pp. 826–837, Nov. 2004.
[3] S. Naylor and J. Y. Chen, “Unraveling human complexity and disease with systems biology and personalized medicine,” Per Med, vol. 7, no. 3, pp. 275–289, 2010.
[4] L. E. Kraushaar, A. Dressel, and A. Massmann, “A novel principled method for the measurement of vascular robustness uncovers hidden risk for premature CVD death.,” J. Appl. Physiol., p. japplphysiol.00016.2018, Mar. 2018.
[5] L. E. Kraushaar and A. Dressel, “The cardiovascular robustness hypothesis: Unmasking young adults’ hidden risk for premature cardiovascular death,” Med. Hypotheses, vol. 0, no. 0, Jan. 2018.