Ein 16-jähriger Junge kommt mit Hochrasanztrauma in den Schockraum. Er ist als Beifahrer mit hoher Geschwindigkeit auf ein Stauende aufgefahren. Ich weiß, was jetzt zu tun ist. Untersuche klinisch differenziert. Später erfahre ich: Meine Kollegen sind über meine Arbeit empört.
Der Patient im Schockraum ist 16 Jahre alt. Hochrasanztrauma, mit 120 km/h ist er als angeschnallter PKW-Beifahrer auf ein Stauende aufgefahren. Die Fahrerin hatte abgebremst, ist jedoch nicht rechtzeitig zum Stehen gekommen. Die Airbags haben ausgelöst, das Auto ist ein Totalschaden. Der Patient ist selbst aus dem Auto ausgestiegen und zum Seitenstreifen gegangen. Dort hat er bei Eintreffen des Rettungsdienstes gesessen und mit der Mutter telefoniert.
Er kommt aufgrund des Unfallmechanismus als Schockraum. Aber nicht als Polytrauma.
Meine klinische Untersuchung zeigt im primary survey keine Pathologien. A,B,C,D,E. Unauffällig. Der Patient atmet selbstständig, spricht mit mir in klaren Worten, kann sich an alles erinnern, er ist kardiorespiratorisch stabil, die Lungen sind beidseits belüftet, Thorax und Becken sind stabil, der Bauch ist weich. Die FAST-Sonographie ist unauffällig. BWS und LWS sind unauffällig, er trägt einen Stiffneck.
Im secondary survey untersuche ich ihn genauer. Er hat eine kleine Abschürfung im Bereich der rechten Clavicula. Der Knochen selbst ist durchgehend intakt, stabil, kein Druckschmerz. Auch der knöcherne Thorax ist unauffällig, das Brustbein, das Schulterblatt, das ACG-Gelenk - unauffällig. Am linken Unterarm hat er vom Airbag eine Abschürfung, aber auch hier habe ich in der klinischen Untersuchung keinen Frakturverdacht.
Die ziehenden Nackenschmerzen erklären sich durch das Schleudertrauma. Das angefertigte Röntgenbild der HWS ist unauffällig. Nach 30 Minuten untersuche ich ihn noch einmal differenziert. Meine Hände tasten, bewegen oder lassen bewegen. Er hat bis auf die zwei oberflächigen Schürfwunden und die HWS-Distorsion Glück gehabt. Ich empfehle ihm, eine Nacht zur Überwachung bei uns zu bleiben.
Meist schmerzt es am Folgetag deutlich mehr und man kann noch einmal nachuntersuchen.
Vorwürfe aus dem Team
In der Team-Besprechung am Nachmittag werde ich auseinander genommen. Zumindest ein Röntgenbild des Thorax und des Beckens hätte es sein müssen. Schon aus forensischen Gründen. Ein nicht detektierter Pneu sei lebensgefährlich. Auch der radiologische Ausschluss einer Claviculafraktur auf der rechten Seite sei absolut notwendig.
Die Kollegen kennen den Patienten klinisch nicht. Ich verweise auf die S3-Leitlinie. Ich gebe ihnen Recht. Ein nicht detektierter Pneu ist lebensgefährlich. Auch eine nicht bemerkte Claviculafraktur ist schmerzhaft. Die der Patient allerdings nicht hat.
Wie ich das ausschließen kann? Mit meinen Händen, mit meinen Ohren, mit einer differenzierten klinischen Untersuchung.
Letztendlich füge ich mich
In heutigen Zeiten gilt das wohl nicht mehr besonders. Der Oberarzt fordert mich auf, die Röntgenbilder nachzumelden. Ich lenke ein. Die Röntgenbilder werde ich auf Anweisung anmelden, wenn der Oberarzt mit mir zum Patienten geht, ihn klinisch untersucht und die Indikation bei dem 16 jährigen stellt.
Das im Anschluss angefertigte Röntgenbild des Thorax ist unauffällig. Das Röntgenbild des Beckens zeigt eine falsch plazierte Hodenkapsel bei unauffälligen knöchernen Strukturen. Auf das Röntgen der Clavicula konnte verzichtet werden.