Laut US-Leitlinien ist jetzt so gut wie jeder Hypertoniker. Verschreibungen für Blutdrucksenker nehmen auch in Deutschland zu. Voreilige Therapien rächen sich aber, sagt ein Experte: Ein Organ, das man bei der Gabe von Antihypertensiva schützen möchte, wird dadurch beschädigt.
Antihypertensiva gehören zu den am häufigsten eingesetzten Arzneimitteln in Deutschland, besonders häufig werden sie Menschen über 60 verschrieben. Lagen die Verordnungszahlen im Jahr 1995 noch bei fünf Milliarden Tagesdosen (DDD), sind es heute 15 Milliarden. Seit 2007 steigt der Wert um 4,5 Prozent pro Jahr.
Die Präparate helfen vielen Menschen mit arterieller Hypertonie. Etwa jeder zweite Todesfall wird durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen verursacht, die mit Bluthochdruck in Zusammenhang stehen: die koronare Herzkrankheit (KHK), Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Schlaganfall oder die arterielle Verschlusskrankheit. In diesen Fällen ist eine Gabe von Blutdrucksenkern sinnvoll, in anderen Fällen kann man darüber streiten.
130/80 mmHg oder 140/90 mmHg?
Blutdruckwerte sind zum wissenschaftlichen Diskussionsthema geworden. Wo die sinnvolle Grenze liegt, bleibt fraglich. Vor wenigen Wochen ist auf dem Kongress der European Society of Hypertension eine neue europäische Leitlinie vorgestellt worden.
„Die US-Leitlinien definieren Bluthochdruck bereits ab Werten ≥130/80 mmHg, der Grenzwert wurde 2017 u.a. als Reaktion auf die SPRINT-Studie abgesenkt“, fasst Professor Dr. Peter Trenkwalder von der Deutschen Hochdruckliga zusammen. Über Nacht wurden rund 20 Millionen Amerikaner, die nichts von ihrem Glück ahnten, zu behandlungsbedürftigen Patienten. Trenkwalder ergänzt: „Die europäische Leitlinienkommission hingegen sah für eine solche Empfehlung keine ausreichende Evidenz.“ Damit sei die Mehrzahl aller Hypertoniker erst ab einem Blutdruck von 140/90 mmHg medikamentös zu behandeln.
Das geht an die Nieren
Aber auch in den USA regt sich Widerstand, zumindest im wissenschaftlichen Bereich. Professor Dr. Srinivasan Beddhu von der University of Utah School of Medicine warnt vor nephrologischen Folgen bei allzu rigider Blutdrucksenkung. Auch er hat sich die bereits erwähnte SPRINT-Studie angesehen. Daten aus der ACCORD-Studie bezog er außerdem mit ein. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht.
Bei SPRINT testeten Forscher die Folgen eines systolischen Blutdruckziels von weniger als 120 mmHg gegenüber einem Blutdruckziel von weniger als 140 mmHg (Standardintervention) bei Menschen ohne Diabetes. Die ACCORD-Studie schloss Patienten mit Typ-2-Diabetes ein, hatte aber ansonsten identische Studienarme. Alle Teilnehmer hatten zu Beginn keine Nierenerkrankungen.
Innerhalb von drei Jahren entwickelten im Rahmen der SPRINT-studie 3,5 Prozent (intensive Senkung) versus 1,0 Prozent (moderate Senkung) der Teilnehmer chronische Nierenerkrankungen. Bei ACCORD waren 10,0 Prozent versus 4,1 Prozent betroffen. Wie ärgerlich: Galt der Nierenschutz doch als weiteres Argument für antihypertensive Therapien, ist plötzlich das Gegenteil der Fall.
Schon mal was von Deprescribing gehört?
Damit nicht genug: Haben Ärzte Hypertonien erst einmal diagnostiziert, weichen sie kaum von der Diagnose ab. Genau das ist meiner Mutter (derzeit 76) passiert. Sie kam vor Jahren etwas abgehetzt in die Sprechstunde. Und siehe da – die punktuelle Messung ergab zu hohe Blutdruckwerte. Deshalb erhält sie seit Jahren Atenolol und ab und zu eine weitere Messung in der Praxis. Deprescribing, also eine Strategie, die überprüft, ob Medikationen wirklich noch erforderlich sind, sucht man in vielen Praxen vergebens.
Gerade älteren Menschen schaden Ärzte mit unüberlegten Strategien zur Blutdrucksenkung mehr, als sie ihnen helfen. Privatdozent Sven Streit vom Institut für Hausarztmedizin der Universität Bern konnte jetzt nachweisen, dass eine Senkung des Blutdrucks mit einem erhöhten Sterberisiko in Verbindung stand. Je tiefer der Blutdruck gesenkt wurde, desto höher war auch die Mortalität. Gleichzeitig fand der Wissenschaftler Hinweise darauf, dass der kognitive Abbau und die körperliche Gebrechlichkeit schneller fortschritten. Damit widerspricht der Erstautor den amerikanischen Forschern und deren Empfehlung, für über 60-Jährige systolische Zielwerte von unter 130 mmHg anzustreben.
Erst denken, dann verordnen
Das beweist noch lange keine Kausalität, liefert aber zumindest Anhaltspunkte. In vielen Studien zum Thema seien alte und gebrechliche Menschen mit mehreren Krankheiten und mehreren Medikamenten ausgeschlossen worden, erklärt Streit. „Damit sind die Resultate auch der besten Studien nur bedingt auf alte Menschen übertragbar.“ Hausärzte sollten Patienten – speziell Senioren oder Menschen mit Vorerkrankungen – Antihypertensiva erst nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Schaden verschreiben. Oder eben nicht verschreiben.