BEST OF BLOGS | Herr Grimmes Hobby ist die klassische Musik. Die kann er aber nicht mehr richtig genießen, denn sein Gehör verschlechtert sich stetig. Der Fall setzt mich ziemlich unter Druck.
Vor vielen Jahren, als ich noch Oberarzt in einer großen HNO-Klinik war, lernte ich Herrn Grimme kennen. Sein Gehör hatte sich immer mehr verschlechtert. Und das in jungen Jahren ohne erkennbare Ursache. Dem HNO-Arzt vor Ort war die Sache unheimlich geworden, weil bei einem intakten Innenohr nur die Schallübertragung abnahm. Und Herr Grimme konnte seine Musik nicht mehr wie gewohnt genießen und drängte nach einer Lösung.
Vor mir saß ein freundlich lächelnder junger Herr in einem ungewöhnlich eleganten Anzug, als wolle er gerade zu einem klassischen Konzert in die Philharmonie gehen. Er berichtete mir mit glänzenden Augen von seinem eigens eingerichteten Musikzimmer. CD oder gar MP3? Um Himmels Willen! Auch kein Plattenspieler! Ein richtiges Tonbandgerät müsse es sein. Die weiteren Einzelheiten seiner besonders ausgerichteten Lautsprecher habe ich nicht mehr verstanden. Es gebe wohl nur einen Ort im Raum, an dem die Akustik perfekt sei. Dort stehe sein Sessel, auf dem er täglich klassische Musik genieße. Dieser Genuss sei nun rechtsseitig immer deutlicher eingeschränkt. Warum? Hilfe!
Ich hatte es mit einem Hör-Perfektionisten zu tun! Ja, selbst als recht erfahrenen Ohr-Operateur setzte mich diese Erwartungshaltung unter Druck.
Hätte ich zuerst den Hörtest und den ohrmikroskopischen Befund gehabt, hätte ich mir die Anamnese schenken oder vielmehr auf das höflich Notwendigste reduzieren können.
„Nein“, war die Antwort auf alle Fragen. Keine Entzündungen, Traumen, weiteren Erkrankungen, Manipulationen, familiäre Häufungen und und und …
Das linke Ohr: eine exakte Kopie aus dem Atlas der Normalbefunde.
Rechts: Blick in den Gehörgang, Ohrtrichter geht nicht vorzuschieben. Der Gehörgang ist nach wenigen Millimetern wie abgeschnitten. Das Trommelfell nicht zu erkennen. Dort musste aber mal ein normaler Gehörgang gewesen sein, denn Herr Grimme hatte ja bis vor zwei Jahren normal hören können und beim Reinigen des Gehörganges durch den niedergelassenen Kollegen war auch vor Jahren noch ein unauffälliges äußeres Ohr beschrieben worden.
In einer Bildgebung, einem Felsenbein-Dünnschicht-CT, waren normale Mittelohrstrukturen und ein belüftetes Mittelohr mit Mastoid zu sehen. Das Trommelfell war jedoch nicht mehr von dem weichteildichten Gewebe im Gehörgang abzugrenzen. Eine Gehörgangsstenose, nicht knöchern sondern häutig.
„Wie bekommen wir diese Stenose weg, Dr. Fora?“, fragte mich Herr Grimme, noch bevor er den Blick von den CT-Bildern abgewendet hatte.
„Also …“, die übliche Phrase, um Worte zu ordnen und Zeit zu gewinnen.
„Und bitte kommen Sie mir nicht mit einem Hörgerät. Ich habe ein normales und ein Knochenleitungs-Hörgerät getestet!“ Eine abfällige Geste, als hätte ich gerade vorgeschlagen, die Klaviertasten grün und orange einzufärben.
„Ich würde alles tun, um mein altes Gehör wiederzubekommen.“ Herr Grimme war gut informiert und fest entschlossen. Und so erklärte ich ihm, wie ich mir eine Operation in seinem speziellen Fall vorstellen könnte.
Zehn Tage später fand der Eingriff statt. Die häutige Stenose war mit einem kleinen Sicherheitsabstand entfernt worden. Der knöcherne Gehörgang wurde an dieser Stelle mit einem feinen Diamantbohrer dünn abgeschliffen. Das Trommelfell konnte passgenau durch Knorpelhaut aus der Ohrmuschel ersetzt und am Hammergriff fixiert werden. Als Ersatz für die Gehörgangshaut wurde Spalthaut entnommen.
Nach der Entfernung der Tamponade drei Wochen später erfolgte der erste Blick auf die Rekonstruktion. Alles war gut eingeheilt. Sofort war das Hören wieder klar und Herr Grimme begeistert.
„Bitte vergessen Sie nicht, dass diese Operation nicht das Ende der Behandlung ist. Das Ohr muss monatlich mindestens zwei Jahre kontrolliert und vielleicht auch lokal nachbehandelt werden“, ergänzte ich beim Entlassungsgespräch aus dem Krankenhaus.
Ein halbes Jahr später stand Herr Grimme wieder in unserer Ambulanz. Nein, nur Dr. Foraminologe wüßte, worum es ginge. Er würde auch geduldig warten.
Das Ergebnis war ernüchternd bis niederschmetternd. Der trommelfellnahe Anteil des Gehörganges war wieder verbarbt, das Neo-Trommelfell kaum noch auszumachen, das Hören wieder deutlich dumpfer. Verzweiflung!
Mit viel Mühe und einer intensiven Lokalbehandlung mit Policresulen und anschließend Mometasonfuroat, alle zwei Tage, konnte die Vernarbung zurückgedrängt werden.
Jetzt, viele Jahre später, haben sich die Abstände der Kontrolluntersuchungen auf sechs Wochen verlängert. Und Herr Grimme ist mir aus dem Krankenhaus in meine Praxis am Rande der Großstadt gefolgt.
Was man nicht alles für einen gesunden Hörsinn auf sich nimmt.