Einige Wissenschaftlern fordern, menschliche Nahrung mit Vitamin-D extra anzureichern. Musterbeispiel dafür soll Finnland sein, wo es nach längerer Supplementierung der Milch mit Vitamin-D keinen nachweisbaren Vitamin-D-Mangel in der Bevölkerung mehr geben soll. Aber seriöse, prospektive, randomisierte, doppelblinde Studien mit Nachweis von Morbiditäts- bzw. Mortalitäts-Vorteilen fehlen.
1. Ausgerechnet Finnland soll als Beleg dienen, weltweit die industrialisierte und immer weniger authentische Ernährung unserer Patientinnen und Patienten auch noch mit Vitamin D anzureichern?
Die wissenschaftlichen Autoren, u.a. vom "Sunlight, Nutrition and Health Research Center, San Francisco, CA/USA" oder aus der Industrie ("Synthelabo"), von "Rationale and Plan for Vitamin D Food Fortification: A Review and Guidance Paper"
https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fendo.2018.00373/full
sollten sich angesichts ihrer Interesse-geleiteten, Nahrungsmittelindustrie-nahen Publikation doch vergegenwärtigen, dass Finnland am nördlichen Polarkreis liegt.
Finnland (Suomi) und die Republik Finnland (Suomen tasavalta) liegt zwischen dem 60. und 70. Breitengrad und zählt zu den nördlichsten Ländern der Erde. Auf einer Fläche von 338.448 km², davon 303.912 km² Land und 34.536 km² Binnengewässer (etwas kleiner als Deutschland mit 357.385 km²) leben nur ca. 5,5 Millionen Einwohner.
Finnland ist damit sozialmedizinisch, krankheits-epidemiologisch, mortalitäts-statistisch und nicht nur numerisch mit 1% der Gesamtbevölkerung von 550 Millionen Europäern die ungeeignetste Stichprobe überhaupt:
Es sind Vitamin-D-bezogene Besonderheiten wie arktischer Winter, Regionen mehrmonatig ohne Sonnenschein, Jahreszeiten-unabhängige Notwendigkeit permanent geschlossener (Schutz)- Bekleidung nicht nur im maritimen Bereich, in Industrie, Handel und Gewerbe, sondern auch in der Freizeit: Das führt zu klinisch relevantem, endemischem Vitamin-D-Mangel der Gesamtbevölkerung.
Bei allen europäischen Mittelmeer-Anrainer-Staaten, aber auch in Zentral- und Mitteleuropa mit z. T. kontinentalem/maritimem Klima sieht das dagegen völlig anders aus. Dort wirkt zumindest in der Sommersaison die qualitativ und quantitativ verstärkte Sonneneinstrahlung protektiv gegen Vitamin-D-Mangel.
2. Wer Morbiditäts- und Mortalität-Statistiken mit Vitamin-D-Mangel rein zufällig, verdächtig-koinzident oder logisch-kausal zusammenbringen will, muss wissenschafts- und erkenntnistheoretisch mehr erforschen, als nur Labor-Ergebnisse bzw. Statistiken zusammen zu rühren.
So geschehen in "Strong associations of 25-hydroxyvitamin D concentrations with all-cause, cardiovascular, cancer, and respiratory disease mortality in a large cohort study" von Ben Schöttker et al.
https://academic.oup.com/ajcn/article/97/4/782/4577069
Die Schlussfolgerungen sind bei unkritischer Auswertung der Daten ebenso banal wie irreführend:
"Conclusions: In this large cohort study, serum 25(OH)D concentrations were inversely associated with all-cause and cause-specific mortality. In particular, vitamin D deficiency [25(OH)D concentration <30 nmol/L] was strongly associated with mortality from all causes, cardiovascular diseases, cancer, and respiratory diseases", besagt doch nichts anderes, dass Menschen, die bio-psycho-sozial oder krankheitsbedingt nicht mehr vor die Türe kommen und einen Vitamin-D-Mangel aufweisen, im Gegensatz zu einer dann gar nicht mehr vergleichbaren Kontrollgruppe mit hohen Vitamin-D-Spiegeln ein schlechteres "Outcome" haben. Der Vitamin-D-Mangel ist damit ein Surrogat-Parameter für erhöhte Morbidität und Mortalität.
Über Ursachen, Kausalitäten und Interdependenzen haben sich die Autoren der letztgenannten Publikation nicht den Hauch eines Gedanken gemacht. Deswegen konnten sie auch ihre Publikation nur mit ebenso vagen wie unverbindlichen "starken Assoziationen" ["Strong associations"] betiteln.
Fazit: Bevor offensichtlich unkritische Wissenschaftler, Politiker und Meinungsbildner auch nur daran denken, Nahrungsmittel zusätzlich mit Vitamin-D anreichern zu wollen...
1. Hypothesen gewissenhaft kritisch prüfen,
2. logisch kausal und nicht nur assoziativ denken,
3. methodisch stringent aufgebaute RCT-Studien vorlegen.
Morbidität und Mortalität sind grundsätzlich mehrdimensional mit präformierten Krankheitslasten verknüpft: Nur so können sie detektiert, isoliert, theoretisch und praktisch weiterentwickelt werden, um schlussendlich der Wahrheit näher zu kommen. Komplexe Krankheitsentitäten auf Monokausalitäten herunterbrechen zu wollen, scheitert in den meisten Fällen.