Ein spitalinterner Service, den wir anbieten, ist die Liquorpunktion, kurz LP genannt. Wir bieten dies insbesondere für die dem Haus angeschlossene Memory-Klinik an (das ist leider kein Ort für Gesellschaftsspiele, sondern dort wird unter anderem abgeklärt, ob ein Patient an Demenz leidet oder nicht).
Die Zuweisung für eine solche LP kommt heute von der Onkologie. Herr Winter, 72 Jahre alt, hat Lymphdrüsenkrebs. Ableger davon machen sich bereits in seinem Hirn breit. Nun möchte man erstens eine Untersuchung des Hirnwassers haben, damit man die dort vorhandenen Zellen genau analysieren kann, und andererseits eine Chemotherapie direkt im Hirnwasser durchführen. Da Chemotherapeutika die Barriere zwischen Blut und Hirn meistens nicht durchdringen können, greift man auf diesen Weg zurück.
Herr Winter ist nervös und freundlich
Herr Winter ist ein kleines bisschen nervös, aber grundsätzlich sehr aufgestellt und freundlich. Brav legt er sich auf die Seite und zieht seine Knie so hoch zum Kinn, wie er kann, um mir einen runden Rücken zu präsentieren. So dehnen sich die Wirbel auseinander und dazwischen bleibt mehr Platz für mich, um durchzukommen. Ich taste den Rücken ab, um zu entscheiden, in welchem Bereich der Lendenwirbelsäule ich stechen möchte.
Für die Untersuchung trage ich einen sterilen Mantel, sterile Handschuhe, Mundschutz und eine OP-Haube. Gründlich desinfiziere ich den Rücken und klebe ein steriles Tuch mit einem Loch in der Mitte dorthin, wo ich arbeiten möchte. So habe ich eine sterile Fläche, an der ich meine Hand abstützen kann.
Das Hirnwasser tropft langsam
Zuerst gibt es eine örtliche Betäubung. Die piekst und brennt immer ein bisschen, aber Herr Winter bleibt stoisch gelassen. Danach suche ich mit einer langen, stumpfen Nadel den Weg. Das bereitet in der Regel keine Schmerzen mehr, nur gelegentlich piekst es ein bisschen. Dann kann ich noch etwas örtliche Betäubung nachgeben, wenn nötig.
Manchmal, wenn die Wirbel sehr verknöchert oder die Zwischenräume sehr eng sind, ist das nicht so leicht, aber heute klappt es problemlos. Ich spüre, wie sich der Widerstand an der Nadel verändert. Am Ende der Nadel in einem durchsichtigen Plastikstück sehe ich das Hirnwasser, das mir langsam entgegen kommt.
Jetzt ist Geduld gefragt – von mir und von Herr Winter. Meine Oberärztin, die mich bei der Untersuchung unterstützt, reicht mir nacheinander vier Plastikröhrchen, die ich füllen muss. Das Hirnwasser tropft langsam, ein Tropfen alle paar Sekunden, und ich brauche für jedes Röhrchen mindestens zwanzig Tropfen.
Der Onkologe kommt hinzu …
Während sich ein Röhrchen nach dem anderen füllt, kommt der Onkologe hinzu. Er bringt mir eine kleine Spritze mit einer grellen gelben Flüssigkeit – das Chemotherapeutikum. Er überprüft noch einmal die Identität des Patienten, die Diagnose, die Verordnung und auch den deklarierten Inhalt der Spritze.
Als alle meine Röhrchen voll sind, reicht er mir die Spritze. Ich verabreiche den Inhalt langsam, den Anleitungen des Onkologen folgend. Danach ziehe ich die Nadel wieder raus und klebe ein Pflaster an die Stelle. Fertig.
Dieser Fall war für mich etwas Besonderes. Nicht die Untersuchung an sich, die ist für mich Routine und normalerweise mache ich sie ohne Oberarzt. Heute war meine Oberärztin ausnahmsweise zu meinem Schutz dabei, damit ich rechtlich nicht alleine dastehe, falls es irgendein Problem durch die Chemo gibt. Denn die Chemo, das ist das Besondere daran: Ich bin Anästhesistin. Ich heile nicht. Nie. Ich gebe Medikamente, die einen Zweck erfüllen, aber zu der Genesung des Patienten leiste ich normalerweise keinen direkten Beitrag. Ich schaffe durch die Narkose gute Bedingungen für eine Operation, ich lege Zugänge, damit andere Ärzte Medikamente verabreichen können, aber selber führe ich keine Therapien durch.
Leider erfahre ich nicht, wie es weitergeht
Nicht so heute: Eigenhändig spritze ich ein Medikament, das den Krebs des Patienten direkt beeinflussen soll. Ein Medikament, das falsch angewendet verheerende Konsequenzen haben könnte. Das erscheint mir wichtig, groß, gefährlich, beängstigend und beeindruckend. Gemischte Gefühle.
Herr Winter darf sich jetzt wieder auf den Rücken legen und muss dann eine halbe Stunde so liegen bleiben, damit sich das Medikament verteilt. Er grinst mich an. „Das hab ich mir schlimmer vorgestellt“, gibt er zu. Das hör ich nach solchen Untersuchungen oft und natürlich immer wieder gern.
Danach darf ich gehen, während der Onkologe noch bleibt und mit dem Patienten das Prozedere bespricht. Ausnahmsweise bereue ich es, den Krankheitsverlauf des Patienten nicht weiter verfolgen zu können. Mich würde schon interessieren, wie es mit ihm weitergeht, ob ihm die Chemo geholfen hat – aber hier ist mein Anteil am Genesungsprozess (so hoffe ich) beendet.
Alles Gute, Herr Winter.