Nach einem Jahr Elternzeit ist heute mein erster Arbeitstag. Und zwar in einer neuen Klinik. Vereinbart ist: Eine Arbeitszeit von 80 Prozent, maximal 12-Stunden-Dienste, eine anfängliche Schonfrist. Fakt ist: Eine Kollegin ist ausgefallen. Es gibt jetzt einen neuen Dienstplan.
Ich bin fast noch motivierter als zu Beginn meiner Assistenzarztzeit. Ich habe nun einen konkreten Plan. Meine Ziele und Prioritäten sind klar.
Mein Kind ist zum Teil in einer Kita versorgt. Außerdem werden mein Mann und ich beide mit 80 % zurück in unsere Berufe starten und die Großeltern sind fest mit eingeplant. Ein organisationsreiches Konstrukt, das wochenweise geplant, verworfen und verändert werden muss. Aber alles andere wäre auch mit einem Kleinkind nicht zu erwarten.
Den Dienstplan habe ich schon einen Monat im Voraus bekommen, die ersten paar Wochen werden mir eine „Schonfrist“ eingeräumt, um mich mit dem System und der Klinik vertraut zu machen. Statt der 24-Stunden-Dienste werden mich hier am Wochenende maximal 12-Stunden-Dienste erwarten, unter der Woche beginnen die Nachtdienste erst am Nachmittag. Eine Variante, mit der ich leben kann.
Anders als erwartet
In der Morgenbesprechung werde ich freudig begrüßt.
„Frau Müller, schön, dass Sie da sind. Sie werden bereits erwartet. Leider ist eine Kollegin kurzfristig abgesprungen und bei einem weiteren Kollegen konnten wir die Probezeit nicht verlängern. Somit gibt es akutell ein paar Löcher zu stopfen. Aber mit Ihrer Erfahrung sollte das kein Problem sein.“
Da ist er. Der erste Aufprall. Als der Assistentensprecher noch mit dem nun veränderten Dienstplan (Schonfrist?) auf mich zukommt, sind meine hohen Erwartungen auf dem Boden der Tatsachen zerplatzt.
Ich bekomme vom Kollegen eine 30-minütige Einweisung in das Computersystem und die Passwörter der „abgesprungenen“ Kollegin. Die mit 35 Mann belegte Station gehört heute mir.
Ohne Hilfe geht es nicht
Mein Gesicht muss tausend Bände sprechen, als ich in das Stationszimmer einlaufe. Mit einem Übergabe-Fresszettel und den notwendigsten Informationen über die Patienten stehe ich vor der Stationsleitung und den erwartungsvollen Gesichtern der Schwestern.
„Ich bin Dr. Lieschen Müller. Ihr dürft gerne ‚Du‘ sagen und heute ist mein erster Tag hier. Heute werde ich für die Station zuständig sein, aber ohne Hilfe werde ich das nicht schaffen.“
Ich bekomme ohne zu fragen einen Kaffee in die Hand gedrückt. Die Leitung erklärt mir in kurzen Sätzen den Ablauf des Tages. Die Schwestern werden die Visite begleiten, einen Blick mit auf die Labore werfen. Sie markieren mir die anstehenden Entlassungen in Grün. Die roten Punkte auf der Liste sind die Problemfälle. Die Schwestern retten mir heute (mal wieder) den Hintern. Sie informieren mich über Elektrolytentgleisungen und über ein fehlendes Röntgenbild vor Entlassung. Außerdem hinterfragen sie die Marcumardosierung eines Patienten, der gar keines haben sollte. Weitaus mehr, als das, was sie eigentlich tun müssten.
Plötzlich ist es Nachmittag
Und dann ist plötzlich der Tag vorbei. In einem Arbeitstempo, das ich mir selbst nicht zugetraut hätte, wird eines nach dem anderen erledigt. Schritt für Schritt. Ich bin mir sicher, dass ich sehr vieles vergessen oder übersehen haben muss, aber im Großen und Ganzen war es irgendwie (pausenlos) machbar. Als um 14 Uhr30 der Oberarzt aus dem OP anruft und fragt, ob ich den gebrochenen Radius operieren möchte, stimme ich liebend gerne zu. Ich genieße die Ruhe im OP und meine Hände scheinen die bekannten Griffe nicht verlernt zu haben. Der Oberarzt ist zufrieden.
In der Nachmittagsbesprechung zerfällt allerdings das letzte Stückchen Hoffnung. Die abgesprungene Kollegin hat sich für die nächsten 3 Wochen krank gemeldet, den Vertrag gekündigt. Die Assistenten wollen sich um 16 Uhr 30 zusammen setzen und einen Plan ausarbeiten.
Tja. Prioritäten. Um 17 Uhr muss ich bei der Oma das Kind holen, da sie heute selbst einen Termin hat. Also muss ich mich entschuldigen. Ich bitte die Kollegen allerdings, mir trotz allem eine Zeit zur Einarbeitung einzuräumen. Denn mein Gehirn scheint nun vor lauter neuen Eindrücken zu platzen.
Der letzte Aufprall kommt von links
Auf der Heimfahrt scheint mein Kopf zu explodieren. Einen geordneten Gedankengang bekomme ich nicht mehr hin. Vielleicht geht es dem Autofahrer links von mir ebenso. Denn er übersieht mich als Abbieger und kracht in meine Hinterseite.
Als die Personalien getauscht und die Bilder gemacht sind, fahre ich mit einer 45-minütigen Verspätung zur Oma.
Eines wird mir am ersten Tag klar. Der Weg wird hart. Welcome back to reality.