Ob es mehr Präparate ohne Rezept geben sollte, diese Frage steht schon länger zur Diskussion. Jetzt gibt es eine Umfrage mit konkreten Zahlen. Apotheker und Patienten finden den Vorschlag gut. Ärzte sind von der Idee weniger begeistert.
Das Verfahren, Arzneimittel aus der Rezeptpflicht zu entlassen, bezeichnen Apotheker als OTC-Switch. Zu diesem Thema wurden kürzlich die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, die bei Ärzten und Apothekern für Gesprächsstoff sorgt. Der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) befragte für eine neue Studie Apotheker, Ärzte und Patienten: Soll die Verschreibungspflicht für Medikamente weiter gelockert werden?
An der Umfrage nahmen 940 Apothekenmitarbeiter teil, darunter 752 Approbierte und 145 PTA. Von ihnen befürworteten 44 Prozent weitere OTC-Switches vorbehaltslos, und 41 Prozent mit Einschränkungen. Insgesamt sehen 95 Prozent in der Maßnahme eine Stärkung der Kompetenz öffentlicher Apotheken. „Diese breite Akzeptanz war im Vorfeld nicht zu erwarten, da Switches für die Apotheker auch immer ein Stück wirtschaftliches Risiko darstellen“, schreibt Studienleiter Prof. Dr. Niels Eckstein von der Hochschule Kaiserslautern. Die Rx-Preisbindung schützt Inhaber zumindest vor dem ruinösen Wettbewerb mit deutschen Konkurrenten, jedoch nicht vor Versendern aus anderen EU-Staaten. OTCs können auch Kollegen eine Straße weiter frei kalkulieren.
Anders als bei Apothekern rufen OTC-Switches bei Ärzten ein geteiltes Echo hervor. Insgesamt wurden 540 Kollegen befragt. Von ihnen befürworten 23 Prozent die Liberalisierungen „uneingeschränkt“ und 28 Prozent „mit Einschränkungen“. 20 Prozent kreuzten bei der Befragung „eher nein“ an, während 25 Prozent strikt gegen Lockerungen der Verschreibungspflicht waren. Unter allen Befragten befürchten 41 Prozent eine Abwertung von Ärzten als Ansprechpartner, während 33 Prozent sogar eine Aufwertung sehen. Alle Ergebnisse der Umfrage auf einen Blick © BAH Die Zustimmung der Apotheker hängt stark von der Indikation beziehungsweise vom Wirkstoff ab. Bei allergischer Rhinitis (Budesonid und Triamcinolon zur nasalen Anwendung) gaben 86 Prozent ihr OK, und bei weiteren topischen Mitteln zur Akne-Therapie waren es 75 Prozent. Weitere Triptane zur Migräne-Therapie (70 Prozent), Antibiotika bei einer Konjunktivitis (87 Prozent) oder weitere Protonenpumpenhemmer bei Sodbrennen (55 Prozent) standen ebenfalls hoch im Kurs. Skeptischer sind Apotheker bei Salbutamol gegen akute Atemnot im Zuge von Asthma bronchiale (51 Prozent), bei Impfungen (47 Prozent), bei Famciclovir gegen Lippenherpes (43 Prozent), Fosfomycin gegen bakterielle Harnwegsinfektionen (41 Prozent), Adrenalin-Injektoren zur Vermeidung anaphylaktischer Schocks (39 Prozent), PDE-5-Hemmern gegen Erektionsstörungen (35 Prozent), bei oralen Kontrazeptiva (35 Prozent) oder bei Statinen gegen hohe Lipidwerte (10 Prozent).
„Für die Indikationen Heuschnupfen, Migräne oder Refluxbeschwerden befürworte ich eine intensive Prüfung, ob nicht weitere Wirkstoffe aus der Verschreibungspflicht entlassen werden könnten,“ sagt Dr. Andreas Kiefer, Leiter der Sophien-Apotheke, Koblenz, und Präsident der Bundesapothekerkammer (BAK) auf Nachfrage von DocCheck. Der Experte ergänzt: „Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass das deutsche System der Entlassung von rezeptpflichtigen Arzneimitteln in die Apothekenpflicht alles in allem ganz gut funktioniert.“ Apotheker würden ihrer heilberuflichen Verantwortung im Rahmen solcher OTC-Switches gerecht. Als Beispiel nennt Kiefer die „Pille danach“. Hier habe sich „der Versorgungsgrad der betroffenen Frauen in den vergangenen Jahren enorm verbessert“. Auf die Frage, wie die Zukunft aussehen könnte, sagt er: „Apotheker stehen auch weiteren OTC-Switches grundsätzlich offen gegenüber, sofern eine Versorgungsverbesserung für die Patienten in Aussicht steht und der Sachverständigenausschuss für Verschreibungspflicht eine Änderung der Verkaufsabgrenzung befürwortet." Interessanterweise teilen Ärzte die Einschätzung von Apothekern zur Frage, welche Indikationen und Wirkstoffe für neue Switches in Frage kommen, weitgehend. Im Spitzenfeld stehen Heuschnupfen (64 Prozent Zustimmung), topische Akne-Therapien (63 Prozent) und Sodbrennen (58 Prozent). Auf den hinteren Plätzen rangieren Adrenalin-Injektoren (29 Prozent), Statine (29 Prozent) und Antibiotika bei Harnwegsinfektionen (22 Prozent).
Zwei Unterschiede fallen dennoch auf. 48 Prozent der Ärzte könnten sich vorstellen, Kontrazeptiva aus der Rezeptpflicht zu entlassen, bei Apothekern waren es nur 35 Prozent. Und Impfungen befürworten 47 Prozent aller Apotheker versus 28 Prozent aller Ärzte. Die Bundesärztekammer äußert sich derzeit nicht zur BAH-Studie. Ihr Präsident Dr. Frank Ulrich Montgomery hatte bei der Entlassung von Notfallkontrazeptiva aus der Rezeptpflicht aber klare Worte gefunden: „Ich möchte meinen akademischen Freunden von der Pharmazie nicht weh tun, aber ich glaube, da überschreiten sie doch eine Grenze: Die Beratung in der Apotheke halte ich nicht für ausreichend, die halte ich überhaupt nicht für suffizient.“ „Der Hausarzt kennt im Idealfall alle Medikamente, die verschrieben werden, auch von Kollegen. Ich habe mehrmals nur durch Zufall erfahren, was Patienten so alles in der Apotheke kaufen,“ gibt Dr. Herbert Vogl im Gespräch mit DocCheck zu bedenken. Der mittlerweile pensionierte Allgemeinmediziner aus der Nähe von München sieht bei OTC-Switches in erster Linie ein organisatorisches Problem. Weitere Entlassungen aus der Rezeptpflicht erschweren Ärzten die vollständige Übersicht über die Medikation ihrer Patienten.
Neben Ärzten und Apothekern befragten BAH-Experten auch 1.000 Konsumenten. 67 Prozent finden eine Lockerung der Rezeptpflicht für Medikamente gut, denn der Apotheker berate zuverlässig. Weitere 55 Prozent sehen bei zusätzlichen OTC-Switches die Möglichkeit, selbst stärker zu entscheiden, welche Präparate sie bekommen. Und 51 Prozent befürworten, Medikamente aus der Verschreibungspflicht zu entlassen, weil sie sich dann den Weg zum Arzt sparen. Patienten wünschen sich vor allem bei Blasenentzündungen, Pilzerkrankungen, Migräne oder Kopfschmerzen mehr Pharmaka ohne Verordnung. „Der niedrigschwellige Zugang zu bewährten rezeptfreien Arzneimitteln in der Apotheke erleichtert einen schnellen Behandlungsbeginn“, kommentiert BAH-Experte Dr. Elmar Kroth. „So können Patienten schneller gesund werden, und Ansteckungsrisiken lassen sich vermeiden.“
Kroth fordert nicht ganz uneigennützig, Hersteller sollten Medikamente nach OTC-Switches drei Jahre lang exklusiv verkaufen: „Die fehlende Marktexklusivität stellt für viele Unternehmen ein Hindernis dar, einen Switch zu beantragen.“ Momentan werden Verfahren zur Entlassung aus der Verschreibungspflicht auf Wirkstoffbasis durchgeführt - und nicht für das Medikament eines Herstellers. Damit holt man sich unliebsame Konkurrenz ins Boot, was sich durch die fehlende Preisbindung bei OTCs noch verstärkt. Des einen Leid, des anderen Freud: GKVen sparen laut BAH durch OTC-Switches viel Geld ein, da die Zahl an Arzt-Konsultationen sinkt. Experten verdeutlichen das anhand von Bindehaut-Entzündungen in einer Kosten-Simulation. Durch einen OTC-Switch von topischen Antibiotika würde die Zahl ärztlich behandelter Bindehautentzündungen um 30 Prozent sinken. Gleichzeitig erwarten sie niedrigere Arzneimittelkosten bei nicht verschreibungspflichtigen Präparaten. Simulation: Durch einen OTC-Switch von topischen Antibiotika sinkt die Zahl ärztlich behandelter Bindehautentzündungen um 30 Prozent. © BAH Alle Überlegungen haben aus Sicht von GKV-Patienten einen Schönheitsfehler: Kassen geben Überschüsse kaum an Mitglieder weiter. Das haben die letzten Jahre gezeigt: Trotz voller Geldtöpfe wurden Zusatzbeiträge erhoben. Versicherte sind sich der finanziellen Tragweite von OTC-Switches nicht bewusst. Sie zahlen Medikamente komplett. Manche Kassen erstatten OTCs zwar als freiwillige Satzungsleistung. Aber das könnte sich schnell ändern.