Der Patient steht am Empfang, er ist aufgeregt, erhebt die Stimme, haut mit der Faust auf die Theke. Der erste Impuls? Man möchte ihn zurechtweisen, so kann er sich nicht benehmen. Wird das den Konflikt lösen? Wohl kaum. Dabei gibt es Wege, die Situation ganz schnell zu deeskalieren.
Marshall Rosenberg behauptete, er könne mit Hilfe der wertschätzenden Kommunikation jeden Konflikt auf der ganzen Welt innerhalb von 20 Minuten lösen, unter einer Voraussetzung. Um diese Bedingung soll es heute gehen.
Im Alltag entstehen immer wieder Konflikte und Missverständnisse. Viele lassen sich lösen oder sogar verhindern, indem wir herausfinden, was unser Gesprächspartner und wir selbst gerade brauchen.
Die „wertschätzende Kommunikation“ (Gewaltfreie Kommunikation, GFK) nach Marshall Rosenberg zeigt Wege auf, wie man durch Empathie und vier Kommunikationsschritte viele Konflikte vermeiden kann.
Mit dem ersten Schritt – Beobachtung – habe ich mich in einem früheren Beitrag beschäftigt. In aller Kürze: Es geht darum, sich einig zu werden, worüber überhaupt gesprochen wird, eine gemeinsame Basis zu schaffen.
Um welche Gefühle geht es?
Im zweiten Schritt werden wir uns der Gefühle bewusst, die in uns und unserem Gegenüber gerade lebendig sind. Für unsere Gefühle sind wir immer selbst verantwortlich. Sie signalisieren uns, ob unsere Bedürfnisse gerade erfüllt werden oder nicht. Auch unser Gesprächspartner äußert und zeigt Gefühle. Ist er wütend oder traurig, sind auch bei ihm ganz offensichtlich Bedürfnisse nicht erfüllt.
Angenommen, Sie sitzen in der Kantine am Tisch und ihr Tischnachbar unterhält sich nicht mit Ihnen, sondern nur mit dem Kollegen auf der anderen Seite. Wie fühlen Sie sich?
Wenn Sie sich traurig fühlen und enttäuscht sind, ist ein Bedürfnis nicht erfüllt. Zum Beispiel das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Kontakt, Gesellschaft oder Austausch.
Oder Sie fühlen sich erleichtert und entspannt? Dann wird ihr Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung durch das Verhalten ihres Nachbarn erfüllt. In beiden Fällen hat sich der Kollege gleich verhalten. Wie Sie sich dabei fühlen, hängt von ihren Bedürfnissen ab, nicht vom Verhalten Ihres Kollegen.
Was sind Bedürfnisse existieren auf universeller Ebene?
In der „wertschätzenden Kommunikation“ gehen wir davon aus, dass alle Menschen die gleichen Bedürfnisse haben. Es spielt keine Rolle, welchen Schulabschluss sie haben, in welchem Land sie geboren wurden oder ob sie an Diabetes oder Schizophrenie leiden. Jeder Mensch sehnt sich zum Beispiel nach Sicherheit, Selbstwert, Gemeinschaft, Vertrauen, Ruhe und Schutz. Hier finden Sie eine Liste typischer Bedürfnisse.
Unterschiede bestehen darin, wie ausgeprägt das Bedürfnis ist und welche Wege wir wählen, um das Bedürfnis zu erfüllen. Da alle Menschen die gleichen Bedürfnisse haben, können wir uns in diesem Punkt meist rasch einigen. Aber die Strategien, die Menschen wählen, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen, können Anlass für Konflikte sein.
Beispiel: Das Bedürfnis nach Sicherheit
Jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Sicherheit. Es gibt viele Möglichkeiten oder Strategien, um für Sicherheit zu sorgen. Man kann
Hier haben wir ganz verschiedene Strategien, die alle ein Ziel haben: das Bedürfnis nach Sicherheit zu befriedigen. Nicht jede dieser Strategien ist für jeden geeignet, aber jeder findet seine eigenen Wege, Sicherheit zu erzeugen.
Lässt sich das Bedürfnis hinter der Handlung erkennen?
Wenn ein Patient die Stimme erhebt (Beobachtung) und wütend ist (Gefühl), dann schlägt er vielleicht auf die Empfangstheke, hebt die Hand oder verlangt sofort den Chef zu sprechen. Als Gesprächspartner können wir uns auf diese Strategien fokussieren. Wir können versuchen sie zu kritisieren, zu unterdrücken oder zu verbieten Das klingt dann oft so:
Dieser Patient zeigt Verhaltensweisen und äußert Gefühle. Das hat aber nichts mit Ihnen zu tun, denn für seine Gefühle ist der Patient ja selbst verantwortlich. Er hat ein Bedürfnis, was nicht befriedigt wird. Und er findet gerade offenbar keine bessere Strategie, sein Bedürfnis zu formulieren.
Wird sein Bedürfnis befriedigt, wenn wir ihn maßregeln, begrenzen oder ihm drohen? Wohl kaum. Können wir stattdessen die Beschimpfungen und verbalen Drohungen an uns vorbei ziehen lassen und erkennen, was er gerade braucht?
Fragen wir uns: Was braucht der Patient?
Hat er Schmerzen und braucht er Gewissheit, dass es nichts Ernstes ist? Oder hat er beobachtet, wie Patienten die später kamen vor ihm drankamen und braucht er Gewissheit, dass alle gleich behandelt werden? Hat er Angst um einen Angehörigen und braucht er die Bestätigung, dass es ihm gut geht?
Wenn es uns gelingt, dass Bedürfnis zu erkennen und zu benennen, fühlen sich Menschen verstanden und angenommen. Es entsteht Verbindung und eine Offenheit dafür, Kompromisse zu suchen oder beispielsweise die Wartezeit zu akzeptieren. Wir könnten also antworten:
Meistens werden Patienten diese Fragen oder Aussagen bejahen. Sie fühlen sich verstanden und die Wut verraucht.
Man muss nicht auf Anhieb richtig liegen
Dabei ist es nicht wichtig, dass Sie mit Ihrer Vermutung sofort richtig liegen. Schon die Tatsache, dass Sie sich für die Bedürfnisse Ihres Gegenübers interessieren, führt zu einer Deeskalation der Situation. Sie öffnen sich dann ebenfalls oft für alternative Strategien, um ihr eigenes ursprüngliches Bedürfnis zu befriedigen.
Wenn ein Patient verlangt, sofort den Chefarzt zu sprechen, könnte das eine ungeschickte Strategie sein, um an verlässliche Informationen zu kommen.
Wir können ihm jetzt auf der Sachebene erklären, dass der Chef nicht da ist und dass das nicht geht. Oder wir erahnen das Bedürfnis und fragen: „Brauchen sie schnell verlässliche Informationen darüber, wie die Operation verlaufen ist? Unser Chefarzt ist nicht da, aber die Ärztin, die die Operation durchgeführt hat, kann Ihnen in 10 Minuten persönlich berichten, wie es gelaufen ist. Wäre das für Sie in Ordnung?“
Alternative Strategien existierne immer für beide
Wenn wir unsere eigenen Bedürfnisse und die unseres Gegenübers erkennen, können wir uns immer auf die Suche nach alternativen Strategien machen, um unser Bedürfnis zu erfüllen. Und das unseres Gesprächspartners auch.
Das ist leichter gesagt als getan. Denn es setzt voraus, dass wir uns durch die Äußerungen unseres Gegenübers nicht angegriffen oder kritisiert fühlen. Sonst geraten wir sofort in die Verteidigungshaltung und müssen uns rechtfertigen.
Da ja jeder für seine eigenen Gefühle verantwortlich ist, hat der Wutausbruch des Patienten oder des Chefs nichts mit uns zu tun. Es sagt nichts über uns aus, sondern nur über dessen unerfüllte Bedürfnisse.
Über Bedürfnisse lässt sich nicht streiten
Wie sinnvoll oder hilfreich einzelne Strategien sind, darüber lässt sich streiten, über Bedürfnisse nicht. Bedürfnisse verbinden uns Menschen miteinander. Das Festhalten an einer einzig richtigen „Lieblingsstrategie“ birgt Konfliktpotential und trennt Menschen voneinander.
Solange ein Mensch an nur einer Strategie festhält, um ein Bedürfnis zu befriedigen, findet er sich oft in der Opferrolle wieder. Denn die Gefahr ist groß, dass die Umgebung mit der gewählten Strategie nicht einverstanden ist und Konflikte entstehen. Je offener wir sind, uns durch verschiedene Strategien ein Bedürfnis zu erfüllen, desto mehr steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es uns gelingt. Doch dazu müssen wir uns zuerst unsere eigenen Bedürfnisse bewusst machen.
Konflikte entstehen dann, wenn die Strategie des einen nicht zu der Strategie des anderen passt. So viel ist nun klar. Oft befinden wir uns in Situationen, in denen uns nur wenige Strategien zur Verfügung stehen. Welche Strategien stehen zum Beispiel dem Psychiatrie-Patienten an der geschlossenen Stationstür zur Verfügung, wenn er sein Bedürfnis nach Autonomie befriedigen möchte? Sicherlich andere als dem Mitarbeiter der Station, der den Schlüssel in der Tasche hat.
Und was war nun mit den 20 Minuten?
Beobachten Sie das Verhalten eines Patienten. Was immer er tut, er verfolgt eine Strategie. Egal, ob sein Denken beeinflusst ist von Wahn, Vergesslichkeit, Schmerzen oder Entzugssymptome: Er verfolgt eine Strategie und sucht die Befriedigung eines Bedürfnisses. Können wir erahnen, welches Bedürfnis es ist? Können wir ihn fragen, ob es um dieses konkrete Bedürfnis geht?
Womit wir wieder beim Anfang wären. Wenn zwei sich streiten, lässt sich der Konflikt innerhalb von 20 Minuten klären – vorausgesetzt zwei Bedingungen ewerden erfüllt:
Danach geht alles ganz schnell. Aber solange jeder starr an seiner Lieblingsstrategie festhält, können sich Konflikte über Jahre und Jahrzehnte hinziehen.
Bedürfnisse, die Sie jetzt bemerken
Was werden Sie tun, wenn Sie diesen Artikel fertig gelesen haben? Werden Sie den nächsten Artikel lesen? Werden Sie etwas essen? Sich wieder Ihrer Arbeit zuwenden? Schlafen gehen?
Was immer Sie tun werden, Sie wenden eine Strategie an, um ein Bedürfnis zu erfüllen. Überlegen Sie, welches Bedürfnis es ist, das Sie gerade antreibt. Könnten Sie das Bedürfnis auch auf andere Weise befriedigen oder gibt es nur eine einzige Strategie?