Essstörungen wie die Anorexia nervosa stellen eine ganz besondere therapeutische Herausforderung dar. In dem Gastbeitrag wird ein Ansatz des Psychodramas vorgestellt, der die Essstörung quasi wie ein Schachspiel interpretiert und neue Lösungsmöglichkeiten für die Klientin ermöglicht.
Gastbeitrag von Natalia Rusyniak
Heute habe ich einen Gastbeitrag einer tollen ehemaligen Kollegin, die über Psychodrama letztlich ganz ähnliche Ideen und Ansätze in die Psychotherapie bringt. Ganz herzlichen Dank für diesen Beitrag !
Psychotherapeutische Behandlung von Anorexia nervosa –
In meinem Beitrag wende ich mich einer Methode psychotherapeutischer Behandlung bei Anorexia nervosa zu.
Es ist bekannt, dass Anorexia nervosa, auch Magersucht genannt, eine Essstörung ist, die durch einen Mangel an Hunger und einem Verlust des Interesses an Nahrungsmitteln gekennzeichnet ist. Die Angehörigen sind es, die sich fragen, warum der liebende Mensch an Anorexia nervosa erkrankt ist. Es gibt keine einfachen Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Erkrankung an Anorexia nervosa und anderen Störungen des Essverhaltens. Anorexia nervosa ist eine komplexe Erkrankung, die aus einer Kombination biologischer, sozialer und emotionaler Faktoren bestimmt wird. Die Idealisierung von Schönheit, Attraktivität und Harmonie in unserer heutigen Gesellschaft trägt hierzu wesentlich bei. In diesem Zusammenhang entstehen emotionale und soziale Unsicherheiten, ein geringes Selbstwertgefühl hinzu kommen traumatische Erfahrungen des bisherigen Lebens. Diese Faktoren können das familiäre Umfeld erheblich stören.
Anorexia nervosa ist eine der heimtückischsten Krankheiten, die das menschliche Leben langsam und quälend nimmt. Sie ist die psychische Störung mit der höchsten Sterberate. Für bis zehn Prozent der Betroffenen nimmt die Krankheit mit einem tödlichen Verlauf. Wie kann man Magersucht heilen? Um diese schreckliche Krankheit zu heilen, ist es notwendig, dass Betroffene an ihre eigenen Kräfte glauben und auf keinen Fall auf den Weg der Heilung wieder umkehren. Psychotherapie ist hierbei ein effektives Mittel, welches die schwer erkrankten Menschen zu Erfolg und Gesundung führen kann. Der renommierte Philosoph Alain de Botton sprach in einem seiner Artikel darüber, dass die Psychotherapie- die bedeutendste Innovation des 20. Jahrhunderts ist. Dieser Aussage stimme ich zu. Dank spezieller Therapien sind die Chancen auf eine Heilung einer Essstörung gegeben. Aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung lässt sich feststellen, dass die Betroffenen ihr negatives Selbstbild mit Hilfe der Bewusstmachung von (dysfunktionalen) Kognitionen, verändern können. Wie geschieht so etwas in der Praxis? Welche Techniken und Methoden der Therapie sind effektiv und nachhaltig? Ziel meines Beitrages ist es, anhand eines Beispiels aus meiner Berufserfahrung aufzuzeigen, wie die Techniken und Methoden des Psychodramas aus neuen Perspektiven heraus im therapeutischen Alltag angewendet werden können. Psychodramatische Methoden werden heute in Psychotherapie, Beratung, Supervision, Coaching und sogar in der Forschung vielseitig und mit viel Kreativität und Fantasie eingesetzt. Im Folgenden wird der Schwerpunkt auf der Integration der Patientenperspektive liegen. Nachweislich gibt es gegenwärtig zahlreiche effiziente Methoden, um dies zu erreichen, wie z.B. das Zwei-Strang-Modell aus Verhaltenstherapie. Mittels dieses Modells wird verdeutlicht, dass zur Überwindung der Erkrankung notwendigerweise direkt an der körperlichen Wiederherstellung des Patienten zu arbeiten ist. Gleichzeitig wird an den Faktoren, die an der Aufrechterhaltung der Symptomatik beteiligt sind (wie Selbstwertproblematik, Autonomiestreben, mangelnde Konfliktlösestrategien, Perfektionismus etc.) gearbeitet.
Ich lade sie ein, einen Einblick in meine Praxis bei Arbeit mit meinen unter einer Essstörung leidenden Patienten zu nehmen.
Große Augen mit langen Wimpern, dichtes braunes Haar, weiche Gesichtszüge, ein hübsches Lächeln mit süßen Sommersprossen, ein zierlicher Körperbau. Diese Beschreibung könnte beinahe auf jedes Superstarmodel zutreffen. Jedoch nein, hier ist die Rede von Leonie, sie ist magersüchtig. Das 15-jährige Mädchen ist eine fleißige Schülerin der zehnten Klasse und eine große Tierliebhaberin. Mit einem Gewicht von 39,6 kg (BMI 15,3 kg/m2) entschieden sich Leonies Eltern ihre Tochter in einer psychosomatischen Klinik, die sich auf die Krankheit Anorexia nervosa spezialisiert hat, behandeln zu lassen. Vor der Aufnahme in die Klinik hatte Leonie eine stationäre Behandlungsmaßnahme bezüglich der Anorexia nervosa sowie eine ambulante Psychotherapie erhalten. Leonies Verweigerung auf Essen und die geringe Zufuhr von Flüssigkeit hatten nach dem zweiwöchigen Aufenthalt in der Klinik ein kritisches Untergewicht zur Folge. Die Notwendigkeit einer Behandlung wurde von ihr selbst komplett geleugnet. Auf Grund dessen, dass Leonie die Nahrungsaufnahme in unserer Klinik verweigerte, wurde die Patientin mit der Zustimmung der Kindeseltern mittels einer Nasen-Magen-Sonde drei Wochen lang ernährt und am Monitoring die Vitalsituation des Körpers überwacht. Nach drei Wochen hatte sich Leonies Zustand stabilisiert, so dass sie sich außerhalb eines lebensbedrohlichen Zustands befand. Durch die psychotherapeutischen Einheiten und die Krisenintervention hatte Leonie zwei wichtigen Einsichten erhalten: Ich bin die essgestörte Leonie und ich bin damit nicht allein. Aufgrund dieser stabilisierenden Faktoren standen ihr nun weitere Hilfen zur Verfügung. Sie war bereit für Veränderungen.
Es ist bekannt, dass dysfunktionale Kognition eine Schlüsselrolle bei der Aufrechterhaltung der Störung ist und diese eine wichtige Rolle spielt. Bei Leonie handelte es sich dabei um Wahrnehmungsverzerrungen, Fehlinterpretationen und unlogische Denkschlüsse. Mit diesen setzte sie sich selbst zunehmend und immer wieder unter Druck. Die Patientin hatte den Eindruck, dass sie selbst durch kleinste Speisemengen massiv zunehmen würde, da sich die aufgenommene Nahrung im Bauch automatisch in Fettpolster umwandeln würde. Die dysfunktionalen Kognitionen prägten Leonis Selbstbild. Sie dachte, dass sie nur dann etwas Besonderes sein könne, wenn sie dünn sei. Derartige "Denkfallen" trugen vor den Klinikaufenthalt entscheidend dazu bei, dass sich das problematische Essverhalten weiter verfestigte. Die Denkfallen oder kognitive Täuschungen entstehen dann, wenn in bestimmten Situationen die psychischen Stabilisationsfunktionen versagen. Aus dieser Erkenntnis könnte die Therapie sich speziell auf die Wiederherstellung der „Faustregeln“ konzentrieren. Auf den ersten Blick wirkt es einfach, doch bei der Betrachtung in einem größeren Kontext, wirkt diese Tatsache eher komplex. Das menschliche Leben mit seinen emotionalen und sozialen Anforderungen und Beziehungen ist ein KOMPLEXES Systeme, das nur schwer berechenbar ist. Unser Leben ist kein linear verlaufendes Modell. Es ist dynamisch vergleichbar mit einer Linie, die einer EKG-Aufzeichnung ähnelt. Hinzu kommt, dass jeden einzelnen Mensch eine individuelle EKG-Linie auszeichnet. Das erfordert von uns als Therapeuten sich immer wieder neuen Therapieperspektiven zuwenden. Mit der Schach-Matt-Methode möchte ich eine kreative Technik vorstellen, die ich persönlich erarbeitet und zum erstmalig in der Therapie mit der Patientin Leonie angewendete. Eine Technik, die Sie als Behandelnde in der Therapietätigkeit, speziell im Einzelsetting (Monodrama), angewendet können.
Grundlage des Psychodramas und Monodramas ist das Prinzip des „Szenischen Verstehens“ (vgl. K. Ottomeyer 1987,2000). Die Patienten versuchen sich dabei möglichst genau an eine in der Vergangenheit erlebte Situation zu erinnern und diese zu beschreiben. Im zweiten Schritt wird „jedem Beteiligten“ (Subjekte wie Objekte) eine Rolle zugeordnet. Es ist nicht nur ein Versuch, sondern auch eine Möglichkeit, der „Stimmung des Alltags“ eine psychodramatische Bühne zu geben.
Die Vorgehensweise dieser Technik besteht darin, dass in der zu bearbeitenden Situation vorkommenden Rollen (z. B. Geschwister, Eltern, Freunde, aber auch Gefühlen wie Wut oder Trauer und inneren Anteilen wie zum Beispiel Perfektionismus) durch Schachfiguren repräsentiert werden.
Die Schlüsselfiguren sind die weiße und die schwarze Königin. Die schwarze Königin stellt repräsentativ die Erkrankung (Anorexia nervosa) und die weiße Königin die Protagonistin selbst dar. Im Therapiesetting spielt die Protagonistin ein Schachspiel mit „ihren Regeln“ (offene Regeln), die den therapeutischen Prozess vertiefen. Sie übernimmt alle Rollen selbst, in dem sie ständig zwischen den Rollen hin und her wechselt. Das Schachbrett stellt auf der Metaebene ein transzendentes Feld dar. Das Ziel des Schachspiels ist es, den Gegenspieler matt zu setzen. Matt bedeutet, dass die Königin sich im Schach befindet und keine Chancen hat einen Zug auszuführen ohne erneut im Schach zu stehen. In der Schach- Matt- Methode soll die Anorexia (die schwarze Königin) keine Möglichkeiten bekommen, sich mächtiger als die Protagonistin (die weiße Königin) zu erheben. Die weiße Königin ist diejenige, die „gut genug“ ist, die „schön genug“ ist. Jeder Zug mit „Gefühlen oder Personen“ stellt die schweren aber transparenten Schritte auf den Weg zur Genesung dar.
Es eröffnen sich für die Patientin neue Erkenntnisse für das Verstehen der Verhaltensweisen nahestehender Menschen oder sich selbst. Die gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen neue Einsichten in die Beziehung mit Menschen mit denen wir interagieren.
Mit dieser Methode lassen sich neue Zugangsweisen in den unterschiedlichen Krisensituationen durch psychotherapeutische Kompetenzen erschließen. Durch die Beobachtungen durch den Therapeuten während des „Spiels“ eröffnet sich ein positiver Effekt dieser Methode. Das „Schachspiel“ visualisiert basierend auf der Methode des Psychodramas den Therapieverlauf mit Ausrichtung auf das Verhaltenstraining. Dieses Vorgehen ist von großem Nutzen für eine sich positiv entwickelnde Psychotherapie.
Durch die angewendete Methode kam Leonie zu der Einsicht, dass die Anorexie eine sehr starke gesundheitsmindernde Wirkung auf sie habe. Sie konnte die Einstellung, ihre Krankheit nicht überwinden zu können, verändern und war nun offen für einen weiteren Genesungsverlauf.
Durch den Klinikaufenthalt verstand sie, dass sie für eine heilende Veränderung Ressourcen bereitstellen muss. Sie verstand, dass sie über Ressourcen, die sie auf dem Schachbrett modifizierte verfüge und bewusst einsetzen müsse. Gleichzeitig konnte sie mit Hilfe der speziell ausgerichteten Psychotherapie einen Zugang zu sich selbst finden und so ihre Essstörung in das Schach-Matt setzen.