Ärzte, Gesundheitspolitiker und Spitzenvertreter zweifeln an der elektronischen Gesundheitskarte (eGK). Deren Konzept stammt aus einer Zeit, als Smartphones langsam auf den Markt kamen. Solche Trends sind am Entwicklungsteam spurlos vorbeigegangen. Trotzdem versetzt niemand dem verhassten Stück Plastik einen Todesstoß, wie aus einer Kleinen Anfrage der FDP hervorgeht.
„Wir debattieren jetzt seit 14 Jahren über die elektronische Gesundheitskarte“, hat Jens Spahn gesagt. „Jenseits von kleinen Modellprojekten allerdings ohne große positive Effekte für die Patienten. Das ist völlig inakzeptabel.“ Wer jetzt nur an Pannen bei der Entwicklung denkt, übersieht das große Ganze: Smartphones gab es in den USA bereits 1994/1995. Mit der Einführung des ersten iPhones in 2007 explodierte der Markt förmlich. Kaum ein Versicherter, der heute keines besitzt. Seit Jahren ist klar, dass Entwickler mit der Technologie der elektronischen Gesundheitskarte auf das falsche Pferd gesetzt haben.
Patienten müssen draußen bleiben
Dahinter steckt nicht nur eine technische, sondern auch eine gesellschaftliche Trendwende. Mündige Patienten sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Aufzeichnungen einzusehen beziehungsweise zu ergänzen. Heute ist es kein Hexenwerk mehr, den Blutdruck oder den Blutzucker im Rahmen von Routinemessungen zu bestimmen. Jedes Gerät hat Apps als Schnittstellen.
Zu Zeiten der Papierakten sah die Sache ganz anders aus. Patienten durften Aufzeichnungen gegen Gebühr kopieren, das war es aber auch schon. So mancher Arzt hat das nicht gern gesehen. Auch die elektronische Gesundheitskarte (eGK) mit noch nicht umgesetzten Zusatzfunktionen wie der elektronischen Patientenakte (ePA) oder der eMedikation ist nicht gerade patientenfreundlich.
„Die Versicherten müssen Herr über ihre eigenen Daten sein“, fordert Karl-Josef Laumann (CDU). Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister ergänzt: „Es muss zum Beispiel möglich sein, dass sie jederzeit ihre eigenen Daten einsehen können, auch ohne dass ein Arzt oder ein anderer Behandler dabei ist.“
„Smartphone spielt eine zentrale Rolle“
Spitzenverbände sehen das ähnlich. „Die gesetzliche Vorgabe, dass nur die Gesundheitskarte als Authentifizierungsmittel für das sichere Gesundheitsnetz zugelassen ist, ist nicht mehr zeitgemäß“, erklärt Doris Pfeiffer.
Die Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes weiter: „Das Smartphone spielt in der digitalen Kommunikation eine zentrale Rolle und das Gesundheitswesen muss gemeinsam mit der Politik schneller als bisher auf den digitalen Fortschritt reagieren. Wir wollen erreichen, dass die Versicherten jederzeit über eine App an ihre Patientendaten kommen.“ Jeder Versicherte müsse Herr über seine eigenen Daten sein und diese unkompliziert über seinen eigenen Computer oder sein Smartphone lesen können.
„Gegen eine Fortsetzung des Projekts“
Der Ärger betrifft aber nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte. Sie müssen technische Änderungen umsetzen, die vielleicht schon bald wieder eingestampft werden. KBV-Chef Andreas Gassen wettert: „Ich verlange Klarheit von der Politik – und zwar nicht nur für uns, sondern in erster Linie für die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen.“ Er fordert „verbindliche Aussagen des Ministers, ob das derzeit geltende Gesetz Bestand haben wird, oder ob es geändert werden soll“.
Wieland Dietrich, Chef der Freien Ärzteschaft, geht noch weiter: „Die technischen und organisatorischen Mängel sowie offene Datenschutzfragen sprechen eindeutig gegen eine Fortsetzung des Projekts“, erklärte er im Rahmen des Ärztetags. Dietrich berichtet auch von Systemausfällen. Gesundheitskarten könnten mitunter nicht eingelesen werden, Praxisabläufe würden behindert. „Es ist absehbar, dass die Industrie bis Ende 2018 weder eine zuverlässige Funktionsfähigkeit gewährleisten kann, noch in der Lage ist, alle potenziellen Teilnehmer anzuschließen“, schreibt er in einer Mitteilung.
Durch die rosarote Brille betrachtet
Nach ersten Kommentaren des Bundesgesundheitsministers zum fehlenden Erfolg der eGK wurden Hoffnungen laut, er würde das leidige Projekt begraben und – wie beim Monopoly – zurück auf Los gehen. Doch es kam anders: Spahn will an der eGK festhalten, die Milliarde sei „nicht umsonst investiert“. Und die Bundesregierung hält sich bedeckt, wie aus einer Kleinen Anfrage der FDP hervorgeht.
Dr. Wieland Schinnenburg, Zahnarzt und Bundestagsabgeordneter für die FDP, wollte wissen, wie es tatsächlich um das Projekt bestellt ist. In ihrer Antwort verweist die Bundesregierung auf die Projekt-Meilensteine laut E-Health-Gesetz. Man gehe davon aus, dass die gematik alle Fristen zur Einführung der elektronischen Patientenakte einhalten werde, heißt es in Antwort 8. Schinnenburg bewertet dies als „Prinzip Hoffnung“. Zudem bleibe Schwarz-Rot Antworten schuldig, wann welche Funktionen außer der Versichertenstammdatenverwaltung zur Verfügung stehen. In Antwort 28 sind keine konkreten Eckdaten zu finden.
Sitzen wir es aus
Was das nun heißen mag, bleibt ungewiss. Der Gesundheitsminister lässt sich jedenfalls nicht in seine Karten blicken. Er hat angekündigt, bis zur parlamentarischen Sommerpause weitere Details bekanntzugeben. Dass er die Reißleine zieht, gilt als eher unwahrscheinlich.
In Berlin halten Experten eine „eierlegende Wollmilchsau“ für wahrscheinlich: als Kombination des Bürgerportals, eines digitalen Behördenzugangs, mit digitalen Lösungen im Gesundheitsbereich. Unsere Enkelkinder können sich schon darauf freuen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lässt Spahn jedenfalls gewähren. „Mutti“ ist nicht auch gerade für ihre Entscheidungsfreudigkeit bekannt.