Der Alarm kommt wie immer aus dem Nichts. Ich bin gerade eben im Büro angekommen und habe mich umgezogen. Ich bin etwas zu früh, habe ausnahmsweise den frühen Bus erwischt. Während ich den PC anwerfe, um Mails und Aufgaben für den heutigen Tag zu prüfen, meldet sich der schrille, unheilverkündende Ton meines Diensttelefons.
Reanimation. Nun, der Ton allein bringt mich noch nicht aus der Ruhe. Das ist nicht mein erster Alarm. Seitdem ich hier arbeite, ist es sogar schon mein sechster, aber bisher hatte ich nur Fehlalarme. Soll heißen: Ich habe noch nie in echt reanimiert.
Ich prüfe den Ort, der auf dem Display angegeben ist und weiß sofort, dass es diesmal kein Fehlalarm ist. Es ist das Zimmer von Herrn Rhein. Er wird meine erste Reanimation sein.
Der Patient ist seit über einem Monat bei uns wegen einer schwer infizierten Beinwunde. Er hatte eine Blutvergiftung, seine Organe haben versagt, er verbrachte Wochen auf der Intensivstation, wurde dreimal erfolgreich wiederbelebt. Zweimal pro Woche wurde er am Bein operiert, der Verband gewechselt, das tote Gewebe abgetragen. Die Eingriffe fanden immer in Teilnarkose statt, da er eine Vollnarkose zumindest am Anfang kaum überlebt hätte.
Vor vier Tagen dann endlich Besserung
Vor vier Tagen wurde er auf Normalstation verlegt. Vor drei Tagen wurde er zum letzten Mal operiert, man hat die Wunde mit Haut vom Oberschenkel abgedeckt. Ein großer Schritt, über den wir uns alle freuten – endlich ging es aufwärts!
Oder eben auch nicht.
Ich fliege das Treppenhaus hinab. Hinter mir rennt ein Anästhesiepfleger mit Rea-Rucksack. Noch hält sich irgendwo im Hinterkopf tapfer die Hoffnung, es könnte doch ein Fehlalarm sein, entgegen aller Vernunft. Ich will Herrn Rhein nicht reanimieren. Kann meine erste Rea nicht bitte irgendein Unbekannter sein?
Das Zimmer ist voll mit Menschen. Eine Pflegekraft drückt auf den Brustkorb, mein Oberarzt steht hinter ihr. Er wird die Beatmung übernehmen. Ich klebe Defi-Pads. Der Chef der Intensivstation steht neben mir, grummelt und verrückt beide Pads etwa um einen Zentimeter. Er hat gräßliche Laune, kennt den Patienten gut, hat selber wochenlang um ihn gekämpft. Das hier ist etwas Persönliches für ihn. Für viele von uns, die Herrn Rhein über den letzten Monat begleitet haben.
Und dann bin ich dran …
Der Assistenzarzt der Intensivstation übernimmt die nächste Runde. Dreißig mal drücken, dann beatmet mein Oberarzt zweimal mit dem Beutel, dann wird wieder gedrückt. Als er sich zum fünften Mal der Dreißig nähert, nickt mein Oberarzt mir zu. „Du bist als nächstes dran.“
Ich hab das sooft geübt. Seit Jahren, mehrmals im Jahr, wieder und wieder auf Puppen herumgedrückt, Analysestreifen ausgewertet, den Trainingsdefi benutzt. Ich frage mich, ob es sich jetzt anders anfühlen wird als an der Übungspuppe?
Überraschenderweise ist es fast das Gleiche, etwas weicher vielleicht. Fünf mal dreißig Kompressionen auf der Mitte des Brustbeins, danach werde ich abgelöst und es übernimmt eine Pflege der Intensivstation. Ich habe Schweißperlen auf der Nase. Das Adrenalin in meinem Blut löst ein vertrautes, klumpiges Gefühl in meinem Brustkorb aus. Das Adrenalin, das vom Anästhesiepfleger in das Blut von Herrn Rhein gespritzt wird, zeigt keinen Effekt.
„Wir machen eine halbe Stunde.“
Es ist ruhig bei uns, man hört nur das Piepsen des Defis, vereinzelte Kommandos, gelegentlich ein „achtundzwanzig, neunundzwanzig, dreißig!“, dann weiß mein Oberarzt, dass er wieder zwei Atemstöße mit dem Beutel geben kann. Nach fünf Zyklen übernimmt der Assistenzarzt der Intensivstation erneut. Nach weiteren fünf bin ich wieder dran.
Der Intensiv-Chef guckt auf die Uhr. „Wir machen eine halbe Stunde.“, kündigt er an. „Wenn dann nichts ist, dann war’s das.“ Die Hälfte davon haben wir schon.
Alle zwei Minuten kontrollieren wir den Rhythmus, aber es kommt nichts. Das Herz steht still. Der Intensiv-Chef gibt leise Kommandos, teilweise nur mit Handsignalen. Warte, mach weiter, schau da hin. Seine Ruhe und Erfahrung trägt uns alle. Wir wechseln uns beim Drücken ab, Protokolle werden geschrieben, Medikamente aufgezogen und verabreicht.
Irgendwann kommen die Chirurgen dazu. Der Assistenzarzt reiht sich zum Drücken ein. Mein Oberarzt gibt mir das Signal, für ihn zu übernehmen. Jetzt bin ich am Kopf und gebe die Beatmungsstöße. Alle fünf Zyklen bestimme ich einen Wechsel, damit niemand zu lange am Stück drücken muss.
Fortsetzung folgt nächste Woche.