Die genetische Ursache für Polyneuropathie im hohen Alter, die bis zur Gehunfähigkeit führen kann, wurde nun gefunden: Ein vererbter Mangel des Enzyms Neprilysin ist der Übeltäter. Durch den Ausgleich der verminderten Enzymaktivität könnte die Erkrankung zukünftig gestoppt werden.
Eine Polyneuropathie kommt bei zwei bis drei Prozent der Bevölkerung und bei sieben Prozent über 65-Jährigen vor. Die Ursache bleibt derzeit noch bei bis zu 50 Prozent der Betroffenen unklar. Bei der Gruppe der über 65-Jährigen wird aber in erster Linie eine genetische Ursache vermutet: „Die Genmutation führt zu einem Enzymmangel, der wahrscheinlich die Nervenschädigung auslöst. Der Ausgleich der verminderten Enzymaktivität könnte in Zukunft einen neuartigen Therapieansatz darstellen, durch den die Erkrankung gestoppt werden könnte“, sagt Michaela Auer-Grumbach von der Universitätsklinik für Orthopädie der MedUni Wien. Ausgangspunkt dieser Entdeckung: drei nicht miteinander verwandte österreichische Familien, in denen mehrere Familienmitglieder zwischen dem 55. und 80. Lebensjahr an ähnlichen Beschwerden litten: zunächst Gefühlsstörungen und Missempfindungen in den Zehen, die sich innerhalb weniger Monate bis Jahre bis hin zu den Knien ausbreiteten sowie Schmerzen und eine rasch fortschreitende Muskelschwäche beim Anheben der Zehen und Füße. „Nach einigen Jahren war freies Gehen oft nicht mehr möglich“, sagt Auer-Grumbach.
Trotz umfassender Untersuchungen konnte die Ursache zunächst nicht geklärt werden. Dadurch wurden einige Patienten zunächst mit ungeeigneten Medikamenten behandelt, was zu keiner Besserung sondern sogar oft zu erheblichen Nebenwirkungen führte. Zwei Gründe ließen die Forscher auf eine genetische Ursache schließen: Zum einen sprachen entzündungshemmende Medikamente nur schlecht an, zum anderen gab es viele familiäre Häufungen der Polyneuropathie – und das, obwohl der späte Krankheitsbeginn für vererbte Polyneuropathien eher untypisch ist. „Eine Analyse des gesamten Exoms der Patienten, also aller Abschnitte der Erbsubstanz, die Proteine verschlüsseln, ergab dann in allen drei Familien eine schwerwiegende genetische Abweichung im MME-Gen, das für die Bildung des Enzyms Neprilysin verantwortlich ist“, erläutert die MedUni Wien-Forscherin, Erstautorin und Leiterin der Studie.
Gemeinsam mit Jan Senderek vom Friedrich-Baur-Institut der Neurologischen Klinik der Universität München , wurde das MME-Gen bei weiteren Patienten getestet. Auch andere europäische und amerikanische Arbeitsgruppen berichteten von ähnlichen Fällen. Das Ergebnis: Bei 28 Patienten aus 19 Familien konnten Mutatuionen identifiziert werden. Zusätzliche Messungen des Enzyms Neprilysin im Blut- und Fettgewebe der Patienten zeigten signifikant niedrigere Werte als bei Kontrollpersonen.
„Die Entdeckung der Ursache dieser Erkrankung ermöglicht die gezielte genetische Diagnostik und Beratung betroffener Patienten und ihrer Familien und wird zukünftig nicht wirksame, aber durch unerwünschte Nebenwirkungen belastende Therapien vermeiden“, fasst Michaela Auer-Grumbach zusammen. „Wenn weitere Studien bestätigen, dass der Mangel an Neprilysin zur Entstehung der Polyneuropathie führt, gibt es berechtigte Hoffnung, dass auch bald eine wirksame Therapie entwickelt werden kann, entweder durch Enzymersatz oder mit Wirkstoffen, von denen bereits bekannt ist, dass sie den Neprilysinspiegel erhöhen.“
Die Autoren der Studie planen nun weitere epidemiologische Untersuchungen von Patienten mit unklaren Polyneuropathien, um herauszufinden, ob Mutationen im MME-Gen auch bei sporadischem (nicht familiär gehäuftem) Auftreten von Polyneuropathien eine Rolle spielen. „Polyneuropathien ab dem 50. Lebensjahr sind häufig, aber nur bei ca. 50 Prozent kann derzeit die Ursache geklärt und eine entsprechende Therapie eingeleitet werden. Wir hoffen, dass zukünftig ein MME-/Neprilysin-Schnelltest zur raschen Diagnose führen kann und auch dadurch die Entwicklung einer Therapie beschleunigt wird“, so Michaela Auer-Grumbach. Originalpublikation: Rare variants in MME, encoding metalloprotease neprilysin, are linked to late-onset autosomal dominant axonal polyneuropathies M. Auer-Grumbach et. al; AJHG, doi: 10.1016/j.ajhg.2016.07.008; 2016