Der zweite Teil der Kurzgeschichte 'Der kleine Ery' ist online! Eine Operation ist kein Kinderspiel. Weder für Geist noch für Körper. Doch wie erlebt unser Körper solch einen unvorbereiteten Eingriff? Folgen Sie dem kleinen Ery auf seiner Reise! Der zweite von fünf Teilen einer bezaubernden Kurzgeschichte, die zu einem kleinen Schmunzeln zwischen all den ernsten Problemberichten führen soll.
Einige Tage waren vergangen und der kleine Ery kannte bereits schon jetzt beinahe jede Endothelzelle, an der er immer und immer wieder vorbeischwamm. Noch immer fühlte er sich pudelwohl bei seiner Arbeit und er sammelte weiterhin mit einem Lächeln fortwährend die schweren Sauerstoffmoleküle auf. Doch heute erschien ihm etwas anders zu sein. Die Stimmung in den Gefäßen erschien ihm angespannter und als er eine Gruppe Thrombos antraf, die sich am Rande einer Gefäßwand tummelten, deuteten diese ängstlich auf ein feuerrotes Sechseck, das sich mit einem angespannten Gesichtsausdruck aggressiv den Weg durch die Hauptverkehrsstraßen bahnte.
„Das ist Adrenalin“, riefen sie wild durcheinander.
Irritiert sah der kleine Ery dem bereits wieder verschwundenen Molekül nach. Adrenalin…der Name sagte ihm etwas. Doch die Thrombos kamen ihm zur Hilfe, bevor er weiter in seinem Gedächtnis kramen konnte.
„Adrenalin kommt nicht selten vorbei, aber man weiß nie, was es bedeutet. Es ist immer ein Vorbote für ein Ereignis“, sagte einer der Thrombos mit zitternder Stimme, „meistens ist es etwas Harmloses. Nervosität oder so, aber es könnte auch jederzeit etwas Schlimmeres sein. Wie bei einem Sturm. Er kann heftig sein und einiges verwüsten, muss es aber nicht.“ Der Thrombo holte tief Luft, um seine Erklärung fortzusetzen, doch ein gewaltiger Ruck erschütterte die Blutbahn. Der kleine Ery war mittlerweile den kräftigen Schlag der Aorta gewöhnt und er fand sich bei jedem weiteren Mal immer schneller wieder zurecht. Das letzte Mal hatte er sich sogar schon die fein gebogene Clavicula betrachten können. Ihm wurde kaum mehr schwindlig. Doch dieser Ruck war anders.
Der kleine Ery wurde von dem Thrombobündel weggeschleudert und raste als hätte man ihm einen zusätzlichen Motor angebunden so schnell wie noch nie durch die belebten Straßen. Er konnte nicht nach rechts oder nach links schauen. Er wusste nicht, was gerade vor sich ging, doch er wusste, dass das Adrenalin diesmal kein Vorbote der Nervosität gewesen war. Hier passierte gerade etwas fiel Größeres. Vereinzelt klangen klägliche Schreie an sein Ohr, im Augenwinkel sah er wie dicke weiße T-Lymphos hektisch an ihm vorbeihuschten, gefolgt wie üblich von den Makrophagen. Auch an vielen Thrombogruppen kam er vorbei, die jedoch nicht alleine waren. Sie schienen mit jemandem zu kämpfen, der sie auflösen wollte.
„Hilfe, verschwinde Hep…“
Doch der kleine Ery verstand den Rest nicht, er wurde weitergetrieben. Ihm war schwindlig und er nahm nichts mehr wahr. Automatisiert wurde er durch die altbekannten Gefäßstraßen geschleudert, blind sammelte er den Sauerstoff auf, der ihm angeboten wurde, eilig versorgte er die langsamer arbeitenden Organe damit. In der Vena portae, die er als Abkürzung benutzte, traf er auf einen alten Eryfreund aus Knochenmarkszeiten, der ihn mit vor Angst geweiteten Augen ansah.
„Pass auf! Nimm nach dem nächsten Sprung einen der drei ersten Ausgänge, sonst wirst du unten verschluckt!“
Noch immer schwindelig sah der kleine Ery seinem Freund hinterher. ‚Einen der drei ersten Ausgänge‘, sagte er sich vor. Der erste Ausgang führte in die obere, rechte Körperhälfte, der zweite führte in die Kommandozentrale, dorthin wurden sonst nur erfahrene Erys gebracht, und der dritte führte in die linke, obere Körperhälfte. Er hatte noch immer keine Ahnung, was vor sich ging, doch er befolgte den Rat seines Freundes.
Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, bis er schließlich noch immer sanft taumelnd an ein Endothel gestoßen wurde und sich erschrocken umsah.