Es ist ein klitzekleines Geräusch, das man meint zu fühlen, wenn die Bandscheibe aufschreit. Während ich eine Hand unter der Hüfte eines beleibten Patienten hatte, versuchte ich ihn, ein wenig zu drehen. Die Windelhose war voll und hing als praller Sack um seine Lenden.
Er streckte mir die Hand entgegen. Ein Dank? Oder ein „Mach vorsichtig, du blöde Kuh“? Er konnte sich nicht wirklich äußern. Seine körperliche und geistige Behinderung hatte ihn zur Sprachlosigkeit verdammt. Der Patient ächzte, meine Bandscheibe ächzte, ich ächzte.
Nach der Windel würde ich ihm eine Hose anziehen, sein Hemd, eine Jacke und den Bademantel. Reisefertig für den Rücktransport in sein Zuhause. Die Kollegen waren anderweitig mehr als beschäftigt, keiner konnte mir helfen. Igendwo schrie einer aus Leibeskräften. Und nun?
„Das geht doch gar nicht!“
Auf Twitter gibt es den Hashtag #twitternwierüddel. Eine Kollegin schrieb ironisch, man könne sich in der Pflege glatt das Fitnessstudio sparen, wenn man einen 120 Kilogramm schweren Menschen dreht.
„So ein Quatsch!“, schrieb einer zurück. „Das geht doch gar nicht!“
Stimmt. Es geht nicht. Es ist nahezu unmöglich. Aber wenn es sein muss? Was dann? Sagt man dann: „Entschuldigung, aber das geht halt einfach nicht!“ und geht stumm aus dem Raum? Ungeachtet der Tatsache, dass man selbst weit und breit gerade die Einzige ist, die wie im Märchen von Frau Holle das Brot aus dem Ofen ziehen muss, weil es sonst verbrennt?
Möchte man irgendwann selbst – zur Unbeweglichkeit verdammt, aus welchem Grund auch immer – unbequem liegen und vielleicht die Windelbuxe voll haben, aber gleichzeitig wissen, dass keiner kommt, weil eben keiner 120 Kilogramm drehen kann? Was für eine schreckliche Vorstellung.
Rettung in letzter Sekunde
Und deshalb geht es. Irgendwie. Wider besseres Wissen, dass es die eigenen Bandscheiben jaulen lässt. Manchmal kann man nicht warten, dass noch einer kommt. Manchmal kommt auch sowieso keiner, der einem helfen könnte. Manchmal ist „Das geht doch gar nicht“ eine schöne Vorstellung, die sich aber nicht mit der Wirklichkeit vereinbaren lässt.
In diesem Fall hatte ich Glück. Während meine Bandscheiben sich High Five gaben, erschien der Rettungsdienst und half mir. Aus Freundlichkeit und Notwendigkeit packten sie alle mit an. Windel an und aus. Der Kenner sieht vor seinem inneren Auge den Schweiß auf unser aller Stirn. Wenn eine Windel in XL knapp ist, sind 120 Kilogramm Körpergewicht vielleicht auch schmeichelhaft geschätzt. Hose an. Fünf mal drehen und wenden, bis sie über dem Po sitzt. Hemd bei absoluter körperlicher Unbeweglichkeit an. Jacke. Bademantel.
Oder wie meine Omma schon immer wusste: „Wenn du etwas zurückgibst, dann immer in dem Wissen, dass es mindestens im ursprünglichen Zustand zurückgegeben wird – oder besser!“
Wenn man sich fühlt, als wäre man 99 Jahre alt
Nach der ungewohnten leicht gebückten Haltung, die man über längere Zeit einnimmt (da nützt auch eine höhenverstellbare Liege wenig) kommt man sich vor wie einer mit 99 Jahren. Laaaangsames Aufrichten. Du spürst, wie die Wirbelkörper und Bandscheiben nach und nach wieder an ihren Platz rutschen. So schön, die Erleichterung, wenn du endlich wieder gerade stehst. Mit leichtem Ziehen bis in die Beine. Yeah.
Patient angezogen, trocken. Möglicherweise hatte er ein leichtes Lächeln um die Lippen, vielleicht weil es sich gut anfühlt, wenn man wieder warm, weich und trocken liegt. Und tschüss. Wir sagen hier nicht gerne „Auf Wiedersehen“.
Demenz und Notaufnahme: Passt nicht
Eine Schmerztablette später lag der Patient, der die Notaufnahme vorher akustisch zu einem Gruselort hatte werden lassen, auf dem Fußboden. Demenz und Notaufnahme passen nicht zusammen. Hier kommt zusammen, was nicht zusammenkommen darf: Ein fremder Ort, unbekannte Menschen, Handlungen, die nicht verstanden werden. Ein Ort der Panik für diese Menschen.
Es soll schon Krankenhäuser geben, in denen Menschen mit demenziellen Syndrom außerhalb der Notaufnahme erstversorgt und behandelt werden. Pilotprojekte. Angesichts der immer steigenden Zahlen von Menschen, die an Demenz erkranken, eine fällige und mehr als gute Idee.
Zu acht umringen wir den Patienten
In diesem Fall trieb die Angst den Mann zu Höchstleistung an. Er nahm seine Körperkräfte zusammen, entwischte dem Griff des Pflegepersonals und machte sich auf die Strümpfe – im wahrsten Sinne des Wortes – und glitt aus. Das geht manchmal so schnell, dass ein Wimpernschlag eine Ewigkeit sein kann. Einmal blinzeln und obwohl du daneben stehst und sie festhälst, sind sie dir entglitten. Wie ein Stück nasse Seife im Entspannungsbad. Flutsch und weg.
Und nun kommt das nächste Kunststück: Wie kriegst du den Mann wieder auf die Beine, der voller Panik um sich schlägt, vergessen hat, wie aufstehen geht und dabei schreit und schreit und schreit. Es reden Menschen auf ihn ein, die er noch nie im Leben gesehen hat. Sie wollen Dinge von ihm, die man nicht nachvollziehen kann. Zu fünft bemühten wir uns. Ergonomisch völlig unkorrekt. Allemiteinander.
Es dauerte. Zufällig kamen die Angehörigen gerade an. Nun waren wir zu acht. Die betagte Gattin des Mannes sagte beständig verzweifelt: „Jetzt hock dich halt endlich hin! Der Rollstuhl steht genau hinter dir!“
Vergessen, wie man sitzt
Aber wie will man sich hinsetzen, wenn man vergessen hat, was sitzen ist? Irgendwann lag er wieder. Er schrie nicht mehr. Er griff meine Hand, drückte sie und – „Hehe!“ – grinste mich an. Das berührt einen.
Auch meine Bandscheiben hatte es berührt. Sie weinten. Sie dehnten sich aus. Sie schrumpelten. Sie knufften mich. Sie ließen mich leicht gebückt und langsam gehen. Wir verfügen über Wissen darüber, wie man körpergerecht arbeitet. Wir kennen uns aus in der Nutzung des Körperstellreflexes. Wir wissen, wie Kinästhetik funktioniert. Wir arbeiten mit einer vernünftigen Arbeitshöhe. Und dennoch kommt es immer wieder zu Situationen, in denen all das für die Katz ist. Augenblicke, in denen all das Wissen nicht angewendet werden kann. Und dann jault es im Iliosakralgelenk. Es wimmert in der Brustwirbelsäule. Es jammert in der Halswirbelsäule. „Das geht doch nicht!“ Ich lache immer noch grimmig über diese Bemerkung.
Wer braucht hier den Arzt?
Es klingelt das Telefon für eine erneute Ersteinschätzung. Ein junger Mann schlendert locker in das Aufnahmezimmer. „Rücken! Seit drei Wochen! Voll schlimm!“
Auf einer Skala von 0 (= alles fein) bis 10 (= eben von einem LKW überfahren) gibt er eine 12 an. „Es ist grauenhaft, dieser Schmerz!“
Ich nicke zustimmend.
„Vorsichtshalber habe ich noch kein Schmerzmittel genommen. Ich möchte den Schmerz nicht verschleiern! Außerdem nehme …“
„… ich nicht so gerne Schmerzmittel“, ergänze ich den Satz schon fast automatisch.
Ich ächze aus dem Bürostuhl hoch und treffe auf eine Kollegin, die zum Dienst kommt.
„Was hatte der gerade?“
„Rücken!“
„Den hab ich gerade aus seinem tiefer gelegten Sportflitzer steigen sehen. Sehr elegant und beschwingt!“
„Yo. Ich ruf dann mal die Ärztin an.“
„Für wen jetzt genau?“, ruft sie mir hinterher, während ich leicht hinkend von dannen ziehe.