Ernährung ist für manche Menschen wie eine Religion. Schwer kranken Patienten gibt sie Hoffnung. Sie glauben, mit der richtigen Ernährung könne man mehr bewirken als mit Medikamenten. Viele Krebspatienten halten sich streng an die ketogene Diät. Wie sieht die Studienlage aus?
Schon seit der frühen Antike verzichten Menschen immer wieder freiwillig auf Nahrung. Manche tun es aus religiösen Gründen, andere um Gewicht zu verlieren oder um den Körper zu entschlacken. Immer wieder hört man auch von Fastenkuren, die dazu dienen sollen, Krankheiten zu heilen. Im Trend liegt dabei vor allem das ketogene Fasten, welches die ketogene Ernährung mit Kalorienrestriktion verbindet. Es soll eine wirksame Waffe gegen Krebs sein. Doch wie heilsam ist diese Ernährungsweise tatsächlich?
Zurück in die Steinzeit
Sucht man im Internet nach dem Stichwort „ketogene Diät“ wird man mit Informationen überhäuft: „Mehr Leistung ohne Kohlenhydrate“ lauten die Überschriften oder „Tumorpatient heilt sich mit Anti-Krebs-Diät“. Und in Buchhandlungen stößt man auf Titel wie „Die Keto-Küche“, „Keto-Kur“, „Mein Keto-Kochbuch“ oder „Ketogene Ernährung bei Krebs: Die besten Lebensmittel bei Tumorerkrankungen“. Kaum eine Ernährungsform wird dezeit mehr besprochen.
Hinter dem Konzept steckt eine auf den ersten Blick logische Theorie. Schließlich sollen schon unsere Vorfahren in der Steinzeit vorwiegend von Fleisch, Fisch, Nüssen, Samen und etwas Gemüse gelebt haben. Sie sollen sich in guten Jagdzeiten den Bauch vollgeschlagen haben, gefolgt von Hunger-Perioden, in denen maximal ein paar getrocknete Wurzeln drin waren. Da ist es doch nur klar, dass der Mensch, der in einer Überflussgesellschaft lebt, wo Nahrungsmittel permanent und überall verfügbar sind, irgendwann zu viel hat. Die Folge: Diabetes, Fettstoffwechselstörungen, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Neben Bewegungsmangel und genetischen Einflüssen gilt vor allem unsere ungesunde Ernährung als Auslöer für diese Krankheiten.
Das Konzept von Keto-Diäten klingt also einleuchtend. Aber kann man damit wirklich Krankheiten heilen? Und zwar nicht nur metabolisch bedingte Krankheiten, sondern auch etwas so Tödliches wie Krebs?
Erfolge bei Epilepsie und Alzheimer
Nachgewiesenermaßen scheint eine ketogene Ernährung, die zu etwa 90 Prozent auf der Aufnahme von Fetten und Proteinen beruht, zumindest bei einigen Erkrankungen hilfreich zu sein. Bei Kindern mit therapieresistenter Epilepsie kann diese Ernährungsform aus bislang nicht ganz verstandenen Gründen eine Besserung herbeiführen. Eine mögliche Erklärung sehen Forscher darin, dass Formen von Krampfanfällen durch Unterzuckerung des Gehirns bei einer ketogenen Diät weniger schnell auftreten. Auch Studien mit Alzheimer-Patienten legen einen möglicherweise positiven Effekt auf die Erkrankung durch die Ernährungsweise nahe.
Wie aber sieht es bei Krebserkrankungen aus? Auch in diesem Zusammenhang liest man immer wieder von Ernährungberatern, die ketogenes Fasten als wirksames Mittel gegen Tumoren anpreisen. Sie reden davon, dem Krebs die Kraft zu nehmen. Sie versprechen einen Gewinn an Lebensqualität, Effekte, die das Tumorwachstum hemmen sollen und bezeichnen diese Form der Ernährung als „gute Medizin“, die dem Wirkstoff von Krebsmedikamenten ähnlich sei. Erzeugen sie falsche Hoffnungen oder ist der Verzicht auf Kohlenhydrate tatsächlich eine wirksame Form der Krebsbekämpfung, die von Schulmedizinern und der Pharmaindustrie bislang ignoriert wird?
Die Warburg-Hypothese
Zuerst einmal sollte man sich fragen, welche Theorie hinter der angeblich heilenden Wirkung von Keto-Diäten steckt. Einige Wissenschaftler vermuten, dass ein veränderter Stoffwechsel von Tumorzellen der Grund dafür sein könnte. Der Arzt und Nobelpreisträger Otto Warburg beobachtete in den 1920er Jahren, dass die meisten Krebszellen ihre Energie durch Vergärung von Zucker gewinnen. Daraus leitete er die nach ihm benannte Warburg-Hypothese ab, die besagt, dass Krebszellen für ihr schnelles Wachstum hauptsächlich anaerobe Glykolyse betreiben. Das bedeutet, dass sie ohne Anwesenheit von Sauerstoff Nährstoffe umsetzen – selbst wenn dieser zur Verfügung steht.
Normale Körperzellen dagegen beziehen ihre Energie vorwiegend durch den oxidativen Abbau von Glukose in den Mitochondrien. Nach Warburgs Theorie ist die Ursache für die Vermehrung von Tumorzellen durch eine Dysfunktion der Mitochondrien bedingt, die zu einer Verstoffwechselung ohne Sauerstoff und damit zu besonders hohen Milchsäurewerten im Blut führt. Für den Tumor ist dies von Vorteil, denn durch sein schnelles Wachstum kommt es häufig zu einem Sauerstoffmangel, weil die Blutgefäße nicht schnell genug mitwachsen können. Dies soll auch die Erklärung dafür sein, warum der Krebs viel mehr Glukose für sein Wachstum benötigt als normale Körperzellen. Denn die anaerobe Glykolyse ist um einiges weniger effizient als der oxidative Abbau. Diese Erkenntnis macht man sich in der modernen Medizin zunutze, um Krebszellen im Körper zu detektieren: bei der Positronenemissionstomographie (PET) wird radioaktiv markierte Glukose von Tumorzellen sehr viel stärker aufgenommen als von gesunden Zellen, wodurch sie sich in einem Bild darstellen lassen.
Hungerzustand im Körper
Bis heute ist die Warburg-Hypothese allerdings nicht einwandfrei bewiesen. Und dennoch ist sie die Grundlage der ketogenen Diät, die auf einer starken Beschränkung des Zuckerkonsums beruht, in der Hoffnung, Krebszellen so ihre Nährstoffgrundlage zu entziehen. Stattdessen sollen sich die Menschen hauptsächlich von Fetten und Proteinen ernähren. Denn in Abwesenheit von Glukose kann unser Körper etwas sehr Erstaunliches: Der Mangelzustand führt zu einem starken Abbau von Fettreserven. Diese Fette werden in der Leber dann in sogenannte Ketonkörper umgewandelt, die einen alternativen Energieträger zum Zucker darstellen.
Der Körper schaltet im Hungerzustand in einen speziellen Stoffwechsel, in die sogenannte Ketose. Anhänger der Diät glauben, dass Krebszellen im Gegensatz zu normalen Körperzellen die Ketone nicht zur Energiegewinnung nutzen können. Man möchte mit dieser Ernährung also den Krebs aushungern, ihm die Fähigkeit nehmen, zu wachsen, Metastasen und neue Blutgefäße auszubilden, während der Rest des Körpers von den Ketonen speisen kann. Das Fasten soll alle Entzündungsprozesse im Körper herunterfahren, die den Tumor antreiben und soll helfen, die dysfunktionalen Mitochondrien in entarteten Zellen zu zerstören – so zumindest die Theorie.
Tumore mögen Fett
So klingt das Konzept hinter der Keto-Diät erstmal plausibel, doch leider ist es in der Realität nicht so einfach. Wissenschaftler haben vor kurzem herausgefunden, dass Krebszellen sehr wohl ihre „Ernährung“ auf Ketone umstellen können, genau wie die normalen Körperzellen. So können einige Tumoren nicht nur Zucker zur Energiegewinnung nutzen, sondern auch aus Fetten gewonnene Stoffe. Ob körpereigenes Fett oder von außen mit der Nahrung zugeführte Fettsäuren (wie zum Beispiel Palmfett), scheint dabei keine Rolle zu spielen. Einige Forscher fanden heraus, dass Ketonkörper in manchen Tumoren das Wachstum und die Metastasierung sogar beschleunigen. Zudem scheint es auch auf Tumorart und –stadium sowie den Körper des Patienten selbst anzukommen, auf welche Weise die Energiegewinnung in Krebszellen stattfindet.
Zwar gibt es auch Studien, die den Erfolg der ketogenen Diät bei Krebs nahe legen. Jedoch wurden die meisten Versuche an Tiermodellen oder Zelllinien in vitro durchgeführt und inwiefern diese Ergebnisse sich auf den Menschen übertragen lassen, ist fraglich. Vereinzelte Fallstudien an menschlichen Patienten zeigen zwar einen Tumorrückgang nach ketogener Diät und Chemotherapie, jedoch lässt sich daraus kein Rückschluss auf die Wirksamkeit des Fastens ziehen, da der Effekt möglicherweise auch auf die alleinige Wirkung der Standardtherapie zurückzuführen ist.
Zu Risiken und Nebenwirkungen …
Ärzte sollten angesichts des jetzigen Wissenstandes vielmehr auf die Gefahren des ketogenen Fastens bei Krebspatienten hinweisen. Schon bei gesunden Menschen birgt die ketogene Diät verschiedene Risiken. Zum einen steigt durch die verhältnismäßig hohe Fett- und Eiweißzufuhr das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen. Zum anderen kann diese Form der unausgewogenen Ernährung zu Vitaminmangelzuständen führen, da kohlenhydratreiches Obst und Gemüse nur selten auf dem Speiseplan stehen. Nebenwirkungen können gerade in den ersten Wochen vermehrte Müdigkeit, Verdauungsprobleme und mit dem Hunger einhergehende psychische Probleme sein.
Während der gesunde Körper einige Tage Nahrungsverzicht in den meisten Fällen gut wegstecken kann, ist der Körper eines Tumorerkrankten durch den Krebs häufig schon sehr geschwächt. Man spricht auch von Tumorkachexie: die Betroffenen sind ausgemergelt, fühlen sich schwach und müde. In etwa 20 Prozent der Fälle führt die Kachexie schließlich zum Tod. In dieser Situation zu fasten und dem Körper dabei noch mehr Zucker und Nahrung zu entziehen, ist fatal. Und doch wird es von einigen Ärzten als begleitende Krebstherapie empfohlen. Vorreiter ist der Bostoner Biologie-Professor Dr. Thomas Seyfried, der propagiert, dass die ketogene Diät sogar besser funktioniere als Chemotherapie – und das bei beinahe allen Tumorarten. Seyfried behauptet, dass Krebs keine genetische Ursache habe, sondern allein durch metabolische Veränderungen entstehe, die man durch richtige Ernährung besiegen könne.
Hochwertige Studien fehlen
Tatsächlich kennt man einige Krebsarten allen voran Hirntumore wie Glioblastome oder Astrozytome, die den Warburg-Effekt zum großen Teil nutzen. Es gibt interessante Studien, die Maus-Hirntumormodelle verwendeten und feststellten, dass eine ketogene Diät in Zusammenhang mit hyperbarer Sauerstofftherapie das Überleben um 78 Prozent steigern konnte. Doch wieder muss man mit Rückschlüssen auf menschliche Hirntumoren vorsichtig sein - ein Mäusetumor tickt eben oft doch ein wenig anders.
Enttäuschend ist die geringe Anzahl an qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Studien zum Thema Fasten bei Krebs beim Menschen. Bis auf einzelne Fallbeschreibungen gibt es keine klinischen Studien, die einen eindeutigen Effekt der Diät nachweisen können. Man konzentriert sich momentan fast ausschließlich darauf zu zeigen, dass der Nahrungsverzicht keinen schweren Schaden anrichtet (Studie).
Diese Kritik führte dazu, dass in den USA in letzter Zeit einige Pilotstudien gestartet wurden, die den Einfluss der ketogenen Diät bei Hirntumorpatienten wissenschaftlich erheben wollen. Die Ergebnisse stehen noch aus. Die erste begonnene Untersuchung wurde allerdings kurz nach Beginn schon wieder abgebrochen: Es zeigte sich, dass die Studienteilnehmer sich nicht strikt an die Diät halten konnten. Der geschwächte Körper machte sehr wahrscheinlich bei nur 20 Gramm Kohlenhydraten pro Tag (das entspricht gerade einmal einem Apfel) nicht mit.
Hungern und hoffen
Auch abseits der ketogenen Diät konnte bislang kein Wissenschaftler überzeugend nachweisen, dass „Krebs-Diäten“ den Kampf gegen den Tumor unterstützen. Im Gegenteil können auch andere Fastenkuren zur Mangelernährung und Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen. Besonders, wenn Patienten fälschlicherweise dazu verleitet werden, an eine alleinige Heilung der Krebserkrankung durch Ernährungsumstellungen zu glauben. Lehnen sie die schulmedizinische Therapie deswegen ab, kann dies zur ernsten Gefahr werden. Jutta Hübner und ihre Kollegen der Arbeitsgruppe „Integrative Onkologie“ an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt raten in einer Übersichtsstudie zu Folgendem: Onkologen sollten ihre Patienten bei „Krebs-Diäten“ ganz genau aufklären.
Betroffene suchen oft verzweifelt nach Heilung durch Nahrungsverzicht. Sie wünschen sich den Krebs direkt zu behandeln, Nebenwirkungen zu reduzieren und das Immunsystem zu stärken. Diese Bedürfnisse werden von den zahlreichen Ernährungs-Religionen aufgefangen, die eine einfache und plausibel klingende Lösung auf Grundlage der Krebsentstehung anbieten.
In Zeiten der Not möchte man sich nur allzu leicht diesen Versprechen hingeben. Doch solange deren Wirksamkeit oder zumindest Unschädlichkeit wissenschaftlich nicht einwandfrei bewiesen ist, sollte man vorsichtig sein. Es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass sich die ketogene Diät für einige Krebserkrankungen irgendwann als hilfreich erweisen könnte. Auf alle Tumorarten wird das aber sicherlich nicht zutreffen.
Patient will aktiv zur Heilung beitragen
Die Autoren um Hübner betonen, es sei deswegen besonders wichtig, den Patienten nicht nur über den bislang fehlenden Wirksamkeitsnachweis und die potenziellen Gefahren des Krebsfastens aufzuklären. Man solle den kranken Menschen mit seinen seinem Wunsch, zur Behandlung aktiv Beitragen zu wollen, ernst nehmen. Anerkennung und gegenseitige Akzeptanz spielen dabei eine genauso große Rolle wie eine gemeinsame Entscheidungsfindung, damit sich der Patient in seiner Not angenommen fühlt und nicht auf falsche Heilversprechen hereinfällt.