Tumor-Patienten sind immer etwas Besonderes. Eine so bösartige Erkrankung ist nicht nur eine fachärztliche, sondern auch eine psychologische Herausforderung. Wir wollen den Krebs heilen und den Patienten auf diesem schwierigen und nicht immer erfolgreichen Weg begleiten. Oft ziehen wir einen Psychotherapeuten hinzu. In diesem Fall war er schon da – als Betroffener.
Heute habe ich mein Arbeitszimmer aufgeräumt. Ich habe vieles sortiert und einiges entsorgt. Plötzlich, zwischen irgendwelchen Fortbildungsunterlagen, liegen drei handgeschriebene Blätter vor mir. Die Schrift ist nicht leicht zu entziffern. Aber ich habe sofort das Gesicht des Verfassers vor Augen. Mit Herrn Petermann hatte ich vor ein paar Jahren zu tun. Damals war ich Stationsarzt.
Während meiner Visite alarmierte uns die Notaufnahme. Dort sei soeben ein Patient mit Atemnot eingeliefert worden. Vor mir saß ein ungefähr 50-jähriger Mann, sehr schlank, lange dünne Haare, Bart, gepflegt. Mit offenem Mund und blass. Schon leicht erschöpft rang er nach Luft. Der Stridor war nicht zu überhören. Der Kollege vor Ort fasste rasch zusammen: Immer gesund, keine Medikamente, seit mehr als einem halben Jahr heiser, bekommt immer schlechter Luft. Schlucken sei leicht erschwert, sodass er nur noch weiche Kost zu sich nähme. Ca. 100 pack years und auch regelmäßig Alkohol.
Die Ursache war schnell gefunden
Ich stellte mich kurz vor und erklärte, wie ich nun rasch der Ursache auf den Grund gehen wollte. Er ließ alles zu. Eine Mischung aus Angst, Erleichterung, Beobachtung. Mit meinem flexiblen Endoskop konnte ich über die Nase in den unteren Schlund und Kehlkopf blicken. Diese exophytisch wachsende Raumforderung konnte nur ein bösartiger und weit fortgeschrittener Tumor sein. Der schlanke Hals des Patienten offenbarte beidseits vergrößerte und kaum noch verschiebbare Lymphknoten, Metastasen.
Während mein Oberarzt zu uns stieß, informierte ich den Patienten in knappen Worten darüber, was ich gesehen hatte und wie nun zu verfahren sei. Er schien nicht überrascht. Zum Glück übernahm mein Oberarzt zunehmend die Gesprächsführung, denn Herr Petermann hatte genaue Vorstellungen im Bezug auf mögliche und unmögliche Behandlungsoptionen.
„Ich muss unbedingt sprechen können“
In Anbetracht des sehr dünnen Restspalts, den der Tumor im Kehlkopf noch offen ließ, stellte eine sofortige Tracheotomiedie Therapie der Wahl dar. Da eine Intubation schon schwierig war, blieb uns nur der Eingriff mit lokaler Betäubung. Für den Fachfremden klingt das fast unmenschlich, ist aber technisch durchaus gut durchführbar. Dies hätte ein Ersticken – welch grausames Ende – verhindert.
Herr Petermann lehnte diesen Eingriff aber nicht aus Sorge über die Schmerzen ab. „Das ist keine Option! Ich muss sprechen können. Meine Patienten warten auf mich“, betonte Herr Petermann. Er arbeitete als Psychotherapeut.
Die einzige Hilfe, die wir ihm also anbieten konnten, war ein Debulking des Tumors, eine Verkleinerung zur Erweiterung der Atemwege. Eine Stunde später legte der Anästhesist einen lasergerechten Jet zur Ventilation der Lungen durch den verengten Kehlkopf. Selbst ein Baby-Tubus war zu breit. Die Abtragung großer Teile des Tumors mit dem Laser verlief erfolgreich. Die Glottis war wieder weit und wir hatten Material für die histologische Untersuchung gewonnen.
Wir einigten uns auf Bestrahlung
Es handelte sich um ein Plattenepithelkarzinom des Kehlkopfs mit lokalen Metastasen der Halslymphknoten. Fernmetastasen waren nicht zu finden. Nach wenigen Tagen ging Herr Petermann wieder. Er hatte genug Luft, um sich seinen Patienten zu widmen. Woher er die Kraft nahm, weiß ich nicht. In einer Tumorkonferenz einigten wir uns mit ihm, dass eine Bestrahlung die einzige Therapiemaßnahme sein würde.
Zum Abschied gab er mir einen Brief. Ich war in der Zeit sein Ansprechpartner und genau wie ich ihm helfen wollte, hatte wohl auch er sich vorgenommen, aus mir einen besseren Arzt zu machen. Einen empathischen Arzt, der nicht nur die Fachbücher anwendet, sondern auf den Mensch als Individuum eingeht.
Einige Worte an mich
In seinem Brief nannte er mir einige Punkte, die ich in der Kommunikation verbessern könnte.
„Bei mir: Was hätte man anders sagen/machen können
1. Anderer Zeitpunkt der Befunderöffnung: Als mein Kopf wie ein Fußball aussah, auch als ich nichts sehen konnte, hatte ich Angst durchzudrehen. Dieser Zeitpunkt war für die Mitteilung der Diagnose äußerst ungünstig. Ich hätte mich schon wieder etwas erholt haben müssen. Außerdem ist es schon etwas Freiwilliges, ob man die Diagnose überhaupt wissen will.
2. Der Oberarzt hat 90 Prozent der Tumormasse entfernen können, diesen positiven Aspekt hätte ich stark betont. In Bezug auf die letzten 10 Prozent würde ich auf Bewältigungsmöglichkeiten eingehen: Wenn alles gut klappt, können Sie noch einige glückliche Jahre verleben. Den Verlauf kann man im Einzelfall nicht vorhersehen.
3. Ich bin in meiner psychotherapeutischen Arbeit auf die forcierte Unterstützung von Fortschritten konzentriert, auch wenn sie noch so klein sind.
4. ‚Der Krebs hat Sie im Griff‘ (Zitat Chefarzt). Das hört sich so an, als wenn der Krebs etwas Äußeres wäre, ein äußerer Gegner, vielleicht ein Catcher.
Der Krebs ist für mich ein Teil von mir. Er ist entstanden durch eine bestimmte Art zu leben (viel Nachtleben, Kettenrauchen, sehr lockerer Umgang mit Alkohol). Es hat Spaß gebracht, so zu leben. Die Krebszellen sind ja ursprünglich gesunde körpereigene Zellen gewesen, die sich jetzt anders verhalten, als sie sollen. Aber auch diese Zellen sind ein natürlicher Teil von mir, entstanden durch einen Lebensstil, der für mich mit viel Lebensfreude verbunden gewesen ist. Ich benutze jetzt zwar auch immer den Begriff Krebs, aber genau genommen sollte man einen anderen Begriff, eine andere Sprache benutzen.
5. Zu meiner aktuelle Situation: ‚Genießen Sie es, wieder schlucken zu können. Eine Strahlentherapie wird Ihr Leben um Jahre verlängern können. Genaue Prognosen sind jedoch nicht möglich.‘
Die Betonung darauf, wie belastend eine Strahlentherapie sein soll, würde ich weglassen. Ich würde nur auf bestimmte Nebenwirkungen eingehen und Möglichkeiten zur Bewältigung aufzeigen.
Der Satz ‚Da kommen harte Zeiten auf Sie zu‘ wirkt total demotivierend. Die Wahrnehmung des Behandlungsverlaufs wird stark beeinflusst, durch die Grundhaltung gegenüber der Therapie, die sich vorher schon aufgebaut hat.“
Was bleibt?
Für mich als Psychologie-Laie ist dies eine interessante Mischung aus Selbsttherapie und Gedanken, die man sich über die Betreuung anderer Patienten gemacht hat. Einige Ideen habe ich mir zu Herzen genommen.
Herr Petermann hat noch einige Monate sein Leben so weiterführen können – sein Leben. Nicht das Leben, das man ihm als „vernünftiger“ Mensch angeraten hätte. Wir haben seine Wünsche befolgt und es ihm ermöglicht. Bis zum Ende hat er seinen Patienten geholfen und nicht auf das verzichtet, was für ihn Lebensqualität bedeutete.