Offensichtlich war sie innerlich bereit für ein klärendes Gespräch mit der Bitch der Notaufnahme. Kampfbereit, die Rechte des erkrankten Töchterleins zu wahren. Und nun das:
„Notaufnahmeschwester, kann ich Sie einen kurzen Augenblick sprechen?“
Oha! Sätze, die so beginnen, versprechen spannend zu werden.
Ein 17-jähriges Mädchen huschte an mir vorbei, Mutti blieb an der Tür stehen: sehr gesprächsbereit.
„Notaufnahmeschwester,ich muss Ihnen sagen, dass es sehr unschön war!“
„Was genau?“
„Dass Sie meine Tochter vor allen Menschen im Warteraum gefragt haben, was sie an einem Freitagnachmittag in die Notaufnahme führt. Sehr unschön. Das ist ja ein junges Mädchen. Das spricht nicht so gern vor anderen von seinen Erkrankungen. Das müssen Sie doch wissen!“
Da hatte ich aber einen andere Eindruck
Nun, den Eindruck hatte ich vor einer halben Stunde nicht. Bereitwillig erzählte sie – wortreich unterstützt von der Mutti – von ihren wochenlang anhaltenden Schmerzen im Handgelenk. Jetzt wäre es total schlimm und der Termin beim Facharzt sei erst in drei Wochen. Drei Wochen! Kann man sich das vorstellen?
Diese Schmerzen müssten doch unbedingt früher abgeklärt werden, fand sie. Ein Schmerzmittel könne man ja den jungen Frauen auch nicht immerzu zumuten. Einmal in dieser schweren Zeit hatte sie eine Tablette Ibuprofen genommen. Und Umschläge lehnt Mutti ab. Homöopatische Notfalltropfen hat sie hingegen schon gegeben.
Ich atmete durch. Jupp. Unschön. Vor allen fragen. Voll doof. Wegen Armschmerzen. Die hatte die freundliche Sekretärin vorher übrigens notiert. Keine Unterleibsschmerzen oder ähnliche intime Details. Was aber die Mutti nicht wissen konnte.
Es hätte so vieles gegeben, was ich der Mutter wiederum zu Bedenken hätte geben können. Ich entschied mich dagegen.
„Sie haben recht!“
„Wie jetzt?“
„Sie haben recht. Ich hätte sie nicht vor allen befragen sollen.“
„Äh. Okay!“
Und plötzlich ist die Luft raus
Damit hatte sie nun anscheinend nicht gerechnet. Offensichtlich war sie innerlich bereit für ein klärendes Gespräch mit der Bitch der Notaufnahme. Kampfbereit, die Rechte des erkrankten Töchterleins zu wahren. Und nun das: Luft raus. Kampf noch vor der ersten Runde abgeblasen. Hui.
„Ich wollte es nur einmal zu Bedenken geben. Ich wollte sie nicht angreifen. Ich habs nur gut gemeint!“
„Aber natürlich. Ich danke Ihnen für den Hinweis. Das vergisst man zwischendrin immer mal ein bisschen.“
„Ich wollte Sie wirklich nicht angreifen!“
„Auf keinen Fall. Das haben Sie nicht.“
Mutti war irgendwie völlig überrumpelt. Wo sie doch scheinbar innerlich schon das Schwert und die Schreibmaschine für die Beschwerdebriefe bereit hielt, gewappnet mit der Ausdauer eines Brauereigauls mitbrachte. Alles für den Kampf zum Wohle der Tochter. Und nun das.
Das Prinzip nennt sich Deeskalation
Sie hatte ja auch recht. Ich hätte. Meine Gründe kann Mutti nicht verstehen und auch nicht, wie wir „Notfälle“ einschätzen.
Es ist manchmal der richtige Weg, einen Schritt zurückzugehen und zu sagen: „Ja. War blöd. Danke für den Hinweis.“ Mal ein bisschen in den Schuhen des anderen herumschlurfen. Auch wenn es 100 gute Gründe für das eigene Verhalten gegeben haben mag. Egal, man muss nicht immer den Erklärbär geben.
Das nennt sich Deeskalation. Es liest sich lustig. Ähnlich wie bei Altbaucharme braucht man einen kleinen Moment, bis man dieses Worte bis ins Detail geschnallt hat. Das aber nur nebenbei.
Versöhnen statt spalten in der Notaufnahme
Gefühlt war ich an diesem Tag der Politiker Johannes Rau der Notaufnahme. Der hatte 1985 sein Motto „Versöhnen statt spalten“ verkündet. Eine Notaufnahme lebt mitunter von der Deeskalation. Überall und allenthalben kann/muss/sollte man eingreifen, damit es nicht zum Äußersten kommt. Aber manchmal reicht es einfach zu sagen: „Okay. Ich habe deine Sicht und deine Sorge verstanden.“
Wir schieden, nach fünfmaligen Beteuern, dass es keinesfalls böse gemeint, sondern nur ein freundlicher Hinweis gewesen war, als bff (best friends forever). Die Tochter mit einem hübschen Verband um den Arm und dem Rat, auch mal Schmerztabletten zu nehmen, nicht so viel zu schreiben und zu tippen. Wegen Sehnenscheidenentzündung und aua.