In der Medizin kann sich die dramatische Situation ergeben, dass man ein Menschenleben retten kann, aber nur, wenn man einen anderen Patienten sterben lässt. Wie entscheidet man in dieser Situation? Erst kürzlich stand ein Chirurg in den USA vor dieser Herausforderung.
Ungebremst rast die Straßenbahn den Abhang hinunter auf eine Menschenmenge zu. Die Leute ahnen nichts von der Gefahr: Sie stehen hinter einer Kurve direkt auf den Schienen und können die Bahn weder sehen noch hören. In wenigen Sekunden wird ein furchtbares Unglück geschehen. Menschen werden sterben. Niemand und nichts kann diesen führerlosen Wagon aufhalten. Niemand … niemand, außer mir selbst.
Ich könnte den Weichenhebel umlegen. Dann würde die Bahn auf ein Abstellgleis rollen – aber da werkelt ein Gleisarbeiter vor sich hin. Genau einer. Er trägt einen Gehörschutz, ich kann ihn nicht mehr warnen. Wenn ich den Hebel umlege, wird er sterben. Die Menschen auf dem anderen Gleis werden verschont. Ein Leben gegen viele. Was soll ich tun?
Das Trolley-Problem: Nur ein Gedankenspiel?
Die Geschichte klingt wie ein furchtbarer Alptraum und ist zum Glück nur ein Gedankenexperiment, das dazu dient, ein ethisches Dilemma zu illustrieren: Darf man ein oder mehrere Menschenleben opfern, um andere zu retten? Von diesem sogenannten „Trolley-Problem“ („Trolley“ steht hier für die Straßenbahn) gibt es die verschiedensten Varianten: Was wäre, wenn man nicht bloß einen Hebel umlegen, sondern direkt einen Menschen auf die Schienen schubsen müsste? Würde es einen Unterschied machen, ob ich einen furchtbaren Schwerverbrecher, sagen wir, jemanden, der zum Tode verurteilt wurde, oder einen Familienangehörigen auf die Schienen schubsen müsste? Wohl jeder hofft, so eine Entscheidung niemals fällen zu müssen. Und doch passiert es öfter als man denkt. Auch in der Medizin.
Vor einer Weile stand ein amerikanischer Chirurg vor einer solchen Entscheidung. Es ging um ein Paar von siamesischen Zwillingen, die beiden Mädchen waren fast zwei Jahre alt.
Beide konnten nicht geretten werden
Zwilling A hatte eine schwere Fehlbildungen an Herz und Lunge. Es war abzusehen, dass sie eine Operation mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht überleben würde.
Zwilling B hingegen hatte ganz gute Chancen – allerdings nur, wenn sie von ihrer Schwester getrennt würde. Ansonsten wäre Zwilling A früher oder später gestorben und hätte ihre Zwillingsschwester mit in den Tod genommen.
Die Situation ist vergleichbar mit der eines Bergsteigers, der an einer Felswand hängt, nachdem ein Mitglied der Seilschaft den Halt verloren hat: Wenn das Seil nicht durchgeschnitten wird, stürzen Beide in den Abgrund.
Der Chirurg Alan Goldstein hat sich nach intensiver ethischer Beratung dazu entschieden, diese Operation durchzuführen. In einem erschütternden Bericht beschreibt er den Ablauf der Ereignisse: Den Klinik-Mitarbeitern wurde freigestellt, bei der OP mitzumachen oder sich dagegen zu entschieden. Am Abend vor der Operation haben beide Kinder noch miteinander gespielt. Die Eltern hatten Gelegenheit, sich von Kind A zu verabschieden.
Entspricht das dem hippokratischen Eid?
Dann klemmte Dr. Goldstein die entscheidende Arterie ab, der schwächere Zwilling starb noch auf dem OP-Tisch. Die von vorneherein unrealistische Hoffnung, sie würde zumindest ein paar Stunden überleben, erfüllte sich nicht. Kind B hingegen hat die Operation gut überstanden und ist mittlerweile wohlauf. Eltern und Chirurgen sind mit dem Ergebnis der OP „zufrieden“ – sofern man in diesem Zusammenhang überhaupt ein solches Wort verwenden möchte.
Die vierzehnjährige Tochter des Star-Chirurgen hingegen hatte Zweifel: Ob er mit seinem Tun denn nicht den hippokratischen Eid verletzt habe, fragte sie ihren Vater. Eine richtige Antwort ist er ihr schuldig geblieben.
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